Lieber Luther,
ich will nahtlos an meinen letzten Brief anknüpfen, an
die These Ehrmanns, dass das Neue Testament ein gefährliches, frauenfeindliches, antisemitisches und homophobes Buch ist. Es ist natürlich so gekommen, wie es schon vorauszusehen war: Schon allein, wenn man sich der These stellt, die ja nicht so weit hergeholt ist, wenn man die Texte neutral liest, wird einem Unglauben unterstellt, wird gerichtet, mit dem Finger gezeigt, ganz unchristlich Christus im Munde führend. Aber ist es nicht eine Chance nachzudenken und Antworten zu finden, die in unsere Zeit passen? Ich will mich der These stellen, ich finde es herausfordernd, spannend. Zerbröckelt der Glaube unter den Erkenntnissen der Wissenschaft und lässt er sich wirklich nur verteidigen, indem man anfeindet, negiert und in bewährter paulinischer Tradition ausgrenzt? Nein! Die These hilft im Gegenteil zu klären, sich selbst zu klären, aufzuklären, Antworten zu finden, wo vermeintlich rechtglaubende Christen nur abkanzeln oder betreten schweigen. Sie hilft, den Glauben zu bekennen.
Die Bibel ist zunächst nichts als ein Text. Texte werden von Menschen für Menschen geschrieben. Das gilt für Altes wie Neues Testament genauso wie für jeden anderen Text. Dabei ist sowohl der Schreiber als auch der Leser nicht unabhängig von seiner sozialen, gesellschaftlichen und politisch konkreten Lebenswelt zu denken. Er schreibt und liest unter dem Einfluss seiner Realität, welche von Krieg, Flucht, Armut, Ungerechtigkeit, Ungleichverteilung, Hungersnot, Verfolgung, Verschleppung, Unterdrückung, Familienverhältnissen, Kinderlosigkeit, aber auch Wohlstand, Macht, Besitz, Herrschaftsdenken geprägt sein können. Der Schreiber schreibt zu einem gewissen Zweck, im Hinblick auf eine konkrete oder auch abstrakte Leserschaft. Er beabsichtigt mit dem Text etwas zu bewegen und das beeinflusst die Art, wie er schreibt, seine Wortwahl, die Art wie er seinen Text aufbaut und gestaltet. Ein Roman ist anders strukturiert als ein Gedicht, benutzt anderes Vokabular, einen anderen Satzbau. Jeder Schreiber hat seine persönliche Motivation, wieso er schreibt. Nicht zu vergessen: sein jeweiliger Bildungs- und Erfahrungshintergrund. All das fließt in einen Text ein. Es ist die unerzählte Geschichte hinter jeder Geschichte, auch die Geschichte hinter jeder biblischen Geschichte.
Ein salomonischer Text, der dem reichen König zugeschrieben wird, kommt zum Beispiel völlig anders daher als einer von Jeremia, der buchstäblich im Dreck lag und von einem Gefängnisloch ins andere geschleppt wurde. Er ist anders geschrieben, anders aufgebaut, benutzt ein anderes Vokabular, erzählt eine andere Geschichte, stellt unterschiedliche Dinge heraus und in den Mittelpunkt. Und doch haben sie eines gemeinsam: Beide Texte erzählen vom Glauben, wie der Glauben das Leben verändert oder verändern sollte.
Das gleiche gilt für das Neue Testament. Die Evangelien berichten über Jesu Leben. Wer sie aufgeschrieben hat, weiß man nicht wirklich zuverlässig, nur sicher, dass es keine direkten Jünger Jesu waren. Alle haben von dem, was sie schreiben, eine bestimmt Auffassung, interpretieren, ordnen ein, was sie aus ihren schriftlichen und mündlichen Quellen herauslesen, wollen eine Botschaft transportieren. Sie unterscheiden sich dadurch in Nichts von den Schreibern des Alten Testaments.
Das gilt zunächst auch für Paulus und die Schreiber in seiner Nachfolge. Der Unterschied bei Paulus ist, dass er eine neue Religion, einen neuen Glauben schafft, der Jesus zum Gott macht, aus dem Glauben an Gott einen abgeleiteten Glauben an Jesus schafft, einen Glauben, der Jesus für seine Zwecke der Abgrenzung vom Judentum nutzt. Es ist keine Theologie über Gott, sondern eine Theologie über Jesus. Damit steht er schon damals ziemlich unter Rechtfertigungsdruck. Aus Selbstrechtfertigung wird Rechtfertigung durch Glauben. Wir nicht glaubt wie ich das lehre, ist nicht gerechtfertigt vor Gott, wird als ungläubig aussortiert. Kein langes Federlesen. Paulus kreiert ein Konzept der Trennung von Glauben und Werke, das auch seine Werke und seine Schreibe rechtfertigt, und das oft nicht dem eigenen Anspruch standhält. Er erfindet eine Theorie der Vergebung der Sünden allein durch Jesu Kreuzestod und Auferstehung, und stellvertretende Sündenvergebung durch die kirchlichen Würdenträger. Das sichert die eigene Machtbasis. Er begründet eine Religion, bei der nicht mehr Gott, sondern Jesus – stellvertretend für Gott – im Mittelpunkt steht, und dessen Stellvertreter wiederum das ernannte Kirchenpersonal ist. Aus direktem Zugang zu Gott wird Stellvertretung, und Stellvertretung der Stellvertretung.
Das paulinische Gedankenkonstrukt ist bis heute ein wackeliges Gebäude, das bei der geringsten Belastung in Erklärungsnot gerät und einzustürzen droht, nur zu retten durch neue gewagte Hilfskonstruktionen, die genauso auf tönernen Füßen stehen. Die paulinische Theologie setzte sich als „christlicher“ Glaube durch, weil diese Lehre bei den „Heiden“ kommuniziert und verbreitet wurde. Bei den Juden kam Paulus nicht so gut an. Deshalb wandte er sich den „Heiden“ zu, die ihm theologisch nichts entgegenzusetzen hatten, er hatte quasi das Monopol der christlichen Lehre, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass sie sich durchsetzte, da diese „Heiden“ die Klasse stellten, die die damalige Welt beherrschten. Paulus war, im Gegensatz zu Jesus, ein hochgebildeter Mann. Er wollte nicht umsonst mit aller Macht nach Rom. Er kannte als Pharisäer die Machtspielchen, er wusste, wenn die Mächtigen gewonnen waren, hatte er gewonnen.
Die eigentlichen Gegner des Paulus waren die echten Apostel, die Jesus gekannt hatten, und seiner Lehre nicht folgten, wie er offen zugibt. Die echten Apostel waren einfache Menschen der untersten Schicht wie Jesus selbst. Jesus war ihr in jüdischer Tradition predigender Lehrer. Paulus, der Jesus nie getroffen hatte, kannte Jesus nur vom Hörensagen und aus Erzählungen anderer.
Die echten Apostel nahmen ihn nicht für voll, was sein stark ausgebildetes Ego kränkte. Es wäre wirklich interessant, Paulus mit heutigen Methoden psychiatrisch begutachten zu lassen. Was wollen die dummen analphabetischen ehemaligen Fischer ihm, dem theologisch gebildeten Pharisäer, über Glauben erzählen? Ihnen wollte er es zeigen. Er war ihnen bildungsmäßig hoch überlegen und das spielte er erfolgreich aus. Er predigte seine eigene Lehre und ein Evangelium frei von Jesu Wort. Er konnte schreiben, so gebildet, dass ihm kaum einer gedanklich folgen konnte und reden, so aggressiv, dass er Aufruhr verursachte und wo immer er auftauchte. Geschickt stellte er alle, die seiner Lehre nicht folgten, in die Ecke der Ungläubigen, so wie es seinem Beispiel folgend heute noch geschieht.
Paulus legte damit den Grundstein für eine Religion über Jesus, eine Religion, die Glauben mit der paulinischen Theologie gleichsetzt. Es klingt absurd, aber es wird jemand in den Mittelpunkt einer Religion gestellt, der selbst das nicht glaubt, was ihm später mündlich und schriftlich angetextet und antheologisiert wird. Aus Glaube an Gott wird christliche Religion über Jesus und breitet sich, als es die Religion der Herrschenden wird, über den Erdball aus. Das eigentlich konstituierende des Erfolges der christlichen Religion war ihre Verheiratung mit den Mächtigen und Herrschenden.
Noch abstrakter als das paulinische Gedankengebäude ist der Ansatz des Johannesevangeliums, das etwa 100 Jahre n.Chr. entstanden ist, unter den philosophisch-hellenistischen Einflüssen des Schreibers. Es führt das Gedankengebäude eines Jesus als fleischgewordenen göttlichen Logos ein.
Welch ein Gegensatz zu der Einfachheit Jesu. Jesus war ein fest im Judentum verankerter Wanderprediger, der die Tora gut kannte. Er stammte aus einfachsten Verhältnissen, gehörte zur untersten Schicht einer von den Römern geknechteten und ausgebeuteten Bevölkerung, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, dass er weder lesen noch schreiben konnte. Wer sollte ihm, dem armen Bauernjungen, das beigebracht haben? Vor diesem Hintergrund predigte er von einem Gott, der ihm und seinesgleichen, den Armen der Ärmsten, den Kranken und Benachteiligten, Hoffnung auf ein besseres Leben gibt. Er predigte an gegen die soziale Ungerechtigkeit, gegen die politischen, gesellschaftlichen und religiösen Unterdrücker gleichermaßen, brach ein Wort für die Vergessenen und Ausgebeuteten, für die unterste Schicht, der er angehörte, ganz in der Tradition alttestamentarischer Prediger, wie etwa Jeremia. Von der paulinischen Theologie, Gebildet- und Eingebildetheit, Weltläufigkeit und Lehre trennten ihn Welten.
Jesus hatte eine apokalyptische Weltsicht, d.h. er ging von einem Gericht am Ende der Zeit aus. Ob er das Ende bald kommen sah oder nicht, ist m.E. obwohl für die kritischen Historiker von Wichtigkeit, völlig unerheblich. Es ändert nichts daran, dass er davon ausging, dass der Mensch für das, was er tut, sich eines Tages verantworten muss. Er wäre sicher nicht auf die Idee gekommen, sich selbst als Gott zu erhöhen. Das wäre für ihn Blasphemie gewesen. Oder sich als jemand zu sehen, der zum Zweck der Sündenerlösung der gesamten Menschheit stellvertretend für die gesamte Menschheit von den Römern – von Gott so gewollt – ans Kreuz genagelt wird. Er wäre auch nicht auf die Idee gekommen, Glaube und Werke voneinander zu trennen. Der Mensch war für ihn ein im Glauben handelnder Mensch, einer der Gottes Willen tut. Davon zeugt alles, was von ihm berichtet wird. Alles, was Jesus später zugeschrieben und aus ihm gemacht wurde, hat nicht er zu vertreten und würde er auch nicht vertreten, sondern die jeweiligen Textschreiber und Religionsbegründer.
Jesus wäre nicht auf die Idee gekommen, gegen die Juden zu hetzen. Er war selbst Jude. Er prangerte das Unwesen an, aber nicht das Judentum an sich, das sein sozialer, gesellschaftlicher und kultureller Hintergrund war. Jesus wäre auch nicht auf die Idee gekommen, frauenfeindlich zu agieren. Es waren Frauen, die ihn unterhielten und durchfütterten. Viele Jüngerinnen waren in seinem Gefolge, wenngleich die patriarchal denkenden Schreiber des Neuen Testaments das möglichst vertuschen wollten, aber nicht ganz konnten. Das ist ein starkes Indiz für die wichtige Rolle der Frauen in Jesu Leben, die nicht immer zu verheimlichen war, wie sehr sich die Schreiber auch bemühten, dies zu vertuschen.
Frauen kommen in vielen Gleichnissen und Geschichten Jesu vor und sie spielen meist eine wesentlich bessere Rolle als die Männer. Jesus war nicht frauenfeindlich, die Schreiberlinge waren frauenfeindlich, allen voran Paulus, der insgesamt offensichtlich ein gestörtes Verhältnis zu Frauen und jeglicher Sexualität hatte. Er und die Verfechter der neu erfundenen Religion, die unter seinem Namen schrieben, machten die persönliche paulinische Einstellung und Disposition zu Judentum, Frauen und Sexualität zum Dogma, dem erstaunlicherweise bis heute die katholische Kirche folgt. Eigentlich ist das unfassbar. Oder vielleicht auch nicht. Es waren ausschließlich Männer, deren Schriften den Weg in die Bibel fanden, es waren Männer, die diese Dogmen aufstellten und es waren ausschließlich Männer, die die Kanonisierung der Bibel vornahmen.
Lieber Luther, ja, Teile der Texte, die den Weg in die Bibel gefunden haben, sind von frauenfeindlichen, sexualitätsgestörten, rassistischen antisemitischen Schreibern verfasst. Das sind die persönlichen Hinterlassenschaften der Schreiber. Die Bibel ist das meistgelesene Buch der Welt. Wie lesen diese vielen Leser die Bibel, wie wirkt sich, was sie lesen, auf ihr Leben aus?
Ist die Bibel das wahre Wort Gottes? Ist die Bibel trotzalledem ein Glaubensdokument für mich? Viele Fragen, die noch offen sind. Demnächst weiter.
Herzliche Grüße
Deborrah.