Lieber Luther

Lieber Luther

Sonntag, 27. Dezember 2015

Danket dem HERRN

Lieber Luther,

der Weihnachtstrubel ist vorbei, die Menschen rennen zum nächsten Ereignis, die Silvesterparty ruft. Zeit einzuhalten. Psalm 118:

Danket dem Herrn, denn er ist gütig.

Danke, du Volk Gottes.
Danke, du Samen Jakobs.
Danke, der du Gott in Ehrfurcht begegnest.

Du bist angesprochen,
du Volk Gottes,
du Familie seiner Nachfolger,
du Mensch, der sich zu Gott bekennt.

Du verirrtes Volk,
du zerstrittene Familie,
du selbstsüchtiger Mensch,

ihr alle,
die ihr in Not Gott anruft:
Lobet den HERRN,
denn er ist unser Heil.

Öffnet eure Herzenspforten,
befriedet euch,
damit ihr zum Eckstein
in Gottes Haus werdet.

Der HERR lässt's gelingen und
es erscheint wie ein Wunder.
Das ist der Tag,
den der HERR gemacht hat!

Freut euch mit Gott,
wir werden nicht sterben,
sondern von seinen Werken erzählen.
Ach HERR, lass doch gelingen.

Gesegnet sind alle,
die da kommen
im Namen des HERRN.
Ach HERR, erleuchte uns.

Preist den HERRN, denn er ist gütig.

Eckstein
Wer setzt den Eckstein?
Ihr lest es, tut es aber nicht!


Montag, 9. November 2015

Gefangen in Dogmen

Lieber Luther,

wieso scheinen die Kirchen so unbeweglich, so starr und so tot? Sie sind Gefangene ihrer Dogmen. Diese knebeln sie so sehr, dass sie letzten Endes an ihre Selbstfesselung ersticken werden. Die Grundfrage dahinter ist: Lässt sich Gott und seine Allumfasstheit wissenschaftlich erfassen?

Dogmatik, so schreibt Karl Barth, der evangelische Kirchenvater des 20.Jahrhunderts,

ist die Wissenschaft, in der sich die Kirche entsprechend dem jeweiligen Stand ihrer Erkenntnis über den Inhalt ihrer Verkündigung kritisch, d.h. am Maßstab der Heiligen Schrift und nach Anleitung ihrer Bekenntnisse Rechenschaft gibt.

Es geht um die christliche Kirche und um das Was der Verkündigung. Und es geht um den wissenschaftlichen Anspruch. Wer sich mit Dogmatik befasst, so Barth, müsse sich auf den Boden der christlichen Kirche und ihres Werkes stellen. Das sei eine conditio sine qua non.

Damit sind die Fronten klar. Kritik kann nur von denjenigen kommen, die außerhalb der Kirchen stehen. Sie werden aber per definitionem von der Berechtigung, sich mit den aufgestellten Dogmen zu beschäftigen, ausgeschlossen. Die Schotten sind dicht zu halten.

„Die“ Kirche könne zwar mit der Erkenntnis dessen, was sie zum Dogma erhebt, irren, aber das sei ihr nicht zum Vorwurf zu machen, da man nur das von ihr verlangen könne, was gerade der Stand ihrer Erkenntnis sei. Das sei ihrer Existenz in der jeweiligen Geschichte geschuldet.

Was ist „die“ Kirche? Die Kirche sei, und da hört die Wissenschaft auf und das Dogma fängt an, eine Gabe Gottes. Man könnte sie auch nüchtern als eine Organisation definieren, die wie jede andere, eine Hierarchie hat, Macht und Einfluss ausübt oder ausüben will, verfasst ist, Mitglieder hat, eine Verwaltung, eine Unternehmensphilosophie und, nicht zu vergessen, wirtschaftliche Interessen.

Die Auffassung der Kirche als Gabe Gottes verweist zurück auf ein Theologieverständnis, das „die“ Heilige Schrift, „das“ Evangelium, als das Wort des sich selbst kundgebenden Gottes auffasst. Das Selbstverständnis von Kirche, Theologie, Dogma und Schrift ist, dass es Gottes Wille und Werk ist, das sie ist, was sie ist, wie sie ist und dass sie ist. Es bestehen drei Voraussetzungen, die ihre Existenz begründen:


  • Die Texte der Schrift sind die Selbstkundgebung Gottes
  • Menschen, denen es gegeben ist und die bereit sind anzuerkennen, dass diese Selbstkundgebung Gottes für sie geschehen ist.
  • Die Vernunft, d.h. das Wahrnehmungs-, Urteils- und Sprachvermögen aller (glaubenden) Menschen, dass es diesen technisch ermöglicht, sich an der dem im Evangelium sich selbst kundgebenden Gott zugewendeten theologischen Erkenntnisbemühungen aktiv zu beteiligen.


Die gesamte (evangelische) Theologie wird um das Dogma gebaut, die zur Bibel von Menschen zusammengefassten Schriften seien unanfechtbar und unanzweifelbar Gottes Wort, das er selbst, mitten unter den Menschen an alle Menschen gerichtet und gesprochen hat, spricht und sprechen wird. Es sei das Wort seines Tuns an den Menschen, für die Menschen und mit den Menschen, ein sprechendes Tun.

Die Schrift wird als absolutes Wort Gottes gesetzt, zum einen Wort des EINEN, das nicht vieldeutig, sondern eindeutig ist und sowohl „dem Weisesten wie dem Törichsten an sich sehr wohl verständlich“. Diese (evangelische) Theologie, ja die ganze Kirche, steht und fällt mit dem Dogma vom Evangelium als gesprochenes Wort Gottes, noch eingrenzender: „Das Wort Gottes ist darum Evangelium, gutes Wort, weil es Gottes gutes Tun ist, das in ihm zur Aussprache und Ansprache wird.“

Gott wird mit menschlichem Maß gemessen, an unserem Begriff von Gut und Böse. Mensch schreibt Gott das „Gut“ zu. Ist das eine Kategorie für Gott? Denkt Gott in Gut und Böse, oder ist es nur der Mensch, der gut und böse ist und auf Gott projiziert, dass auch er gut und böse ist? Gut und Böse sind so oder so Kategorien, die nicht absolut fassbar sind. Wie nicht absolut fassbare Kategorien, deren Inhalt sich in Jahrtausenden vielfach geändert hat, zum Maßstab für Gott setzen? Oder meint man darunter ein ganz bestimmtes Gut und Böse, ein dem „abendländischen“ Kulturverständnis geschuldetes? Gibt es das überhaupt? Ist Gott ein aufrechter Europäer oder Deutscher oder Schweizer? Das wäre uns wohl das Liebste. Schon die Idee, dass Gott ein auf menschliches Maß reduziertes Wort, Denken und Tun hat, ist eine Reduktion Gottes auf menschliches Maß, eine menschliche Anmaßung sondergleichen.

Theologie setzt sich über Gott. Theologie spielt Gott. Sie maßt sich an für Gott zu sprechen, verschanzt hinter einer Pseudowissenschaft, die ihre Dogmen, ihre Existenz an sich, rechtfertigen will. Wie kann sich ein Mensch, eine Kirche, ein Theologe, anmaßen, für Gott zu sprechen, der sich unserer Phantasie und schon gar jeder Wissenschaft entzieht? Es wird zwar eingeschränkt „dem Stand der Erkenntnisse“ entsprechend, aber welche wissenschaftliche Erkenntnis kann es von Gott geben? Gottes Geheimnis entzieht sich jeder menschlichen Wissenschaft und jeglichem menschlichen Verstand. Bescheidenheit steht bei Kirchen und ihrer Theologie nur auf dem Papier, es ist vielmehr eigene Überhöhung, Rechtfertigung der eigenen Existenz.

Lieber Luther, entgegen jeder Wissenschaft, entgegen jeder Vernunft, besteht die christliche Theologie darauf, dass die Schriften, die wir als Bibel kennen, das gesprochene eindeutige Wort Gottes ist. Da erübrigt sich jedes Wort. Aus Macht- und Existenzerhaltungsgründen kann sie gar nicht anders. Eine Kirche, eine Theologie, die ein Sammelsurium von Schriftstücken zum Gott macht, die ihre Existenz und ihr gesamtes Fundament darauf gründet, hat sich selbst in ein dogmatisches schwarzes Loch katapultiert, in dem sie irgendwann verschwinden wird. Jedenfalls wird klar, wieso dieses Dogma mit Zähnen und Klauen verteidigt wird.

Es wird mir dabei auch erschreckend klar, wieso Pastoren, die in dieser Denke ausgebildet wurden, sprachlos sind, nichts zu sagen haben, für nichts einstehen, für nichts jedenfalls, was die Schrift betrifft, die sie rechtfertigen sollen. Als Zeugen 2.Klasse, nach den Autoren der Schrift – den behaupteten „Zeugen“, die sie faktisch nicht waren - sind sie schon per Dogma als ein Zeuge Gottes kastriert. Schon per Lehre kann Gottes Wort nicht an sie ergehen. Gottes Wort ist mit seiner Selbstäußerung in den Schriften der zur Heiligen Schrift kanonisierten Bibel per Dogma verstummt. Wen wundert da die Verirrung der Pastoren, die Predigten, die oft jenseits jeder Schrift sind?

Die (evangelische) Kirche benimmt sich mit der Selbstfesselung in ihren Dogmen die Chance, die Schriften der Schrift als das zu sehen, was sie sind und zu leisten vermögen: Sie geben Zeugnis von Menschen und ihrer Begegnung mit Gott über Jahrtausende. Im Echo dieser Erfahrungen bekommen wir eine Ahnung von Gott, wächst unsere Sehnsucht, diesen Gott in seinem Tun jeden Tag zu erfahren, mit ihm in Kontakt zu treten. Insofern sind diese Zeugnisse von unschätzbarem Wert für uns, weil sie uns auf die Spur Gottes bringen. Die Kirchen und Theologen, welcher Couleur auch immer, braucht es dazu nicht.

Herzliche Grüße
Deborrah

Keine leichte Kost:
Karl Barth: Einführung in die evangelische Theologie; 8.Aufl.; Zürich 2013
Karl Barth: Dogmatik im Grundriß; 11. Aufl.;  Zürich 2013

Samstag, 31. Oktober 2015

Körperschaftlich praktizierte Nächstenliebe

Lieber Luther,

nicht dass du meinst, ich habe vergessen, dass heute Reformationstag ist. Fast nirgends findet man einen Hinweis darauf. Auch die Kirchen übergehen diesen Tag mittlerweile sanglos. Aus Ärger darüber habe ich genau heute vor 3 Jahren meinen Briefwechsel mit dir angefangen. Was würdest du wohl zu dem heutigen Zustand der Kirchen sagen? Bei uns im Landkreis, so berichtet die örtliche Zeitung, haben sie sich zu einem „Krisengipfel“ getroffen, weil immer mehr Menschen die Kirche verlassen. Und was haben die Kirchenfunktionäre, „die höchsten Geistlichen der Region“, 2 evangelische und 1 katholischer Vertreter, dazu zu sagen? Die Antworten sprechen Bände.

Zunächst Statistisches: von etwa 80 Mio. Menschen gibt es, Stand 2013:

  • Konfessionsfreie: 36%
  • Katholiken: 29,6 %
  • Protestanten: 28,2 %
  • Muslime: 4,2 %
  • Sonstige: 1,4 %


Die genauen Zahlen zu den Kirchenaustritten seit 2014 hat die evangelische Kirche – im Gegensatz zur katholischen Kirche – vorsichtshalber nicht veröffentlicht, aber sie dürften bei rund 250.000 Mitgliedern liegen.

Worin sehen die örtlichen Kirchenfunktionäre nun die „Krise“?

Als erstes wird die Abgeltungssteuer dingfest gemacht. Die Kirchen wollten – unter dem Deckmäntelchen der Gerechtigkeit – noch etwas mehr vom Steuerkuchen und haben deshalb mit Beginn 2015 durchgesetzt, dass die Banken bei der Abgeltungssteuerabführung auch die Konfessionen der Steuerschuldner angeben müssen, so dass sich keiner mehr darüber hinweg mogeln kann. Es geht „natürlich“ um Gerechtigkeit, nicht um Gier. Die Mitglieder beider Kirchen haben mit Kirchenflucht reagiert. Die Kommunikation dazu, so heißt es, sei nicht glücklich gelaufen.

Aber, betrifft das die Kirchen wirklich? Die Steuereinnahmen sprudeln trotz einer halben Million Mitgliederverlust munter weiter und haben 2014 den beiden großen Kirchen ein Rekordniveau von rund 11 Milliarden EUR (!) beschert. Wenn bei einem Unternehmen die Kunden in Scharen davonlaufen, weil sie keine die Kunden überzeugende Produkte oder Dienstleistungen liefern, läuten alle Alarmglocken. So paradox das klingt: Bei den Kirchen ist es gerade umgekehrt. Der Kirchenfunktionär sagt dazu: Sie stellten sich darauf ein, dass es „in den 2020er bereits sparsam werden muss.“ Die Kirche könne dann nicht mehr alles leisten. Einen Rückzug auf Städte und „Premiumstandorte“, das sagt er wirklich und lässt mit dieser Wortwahl tief hinter die Kulissen blicken, wolle man nicht.

In einem Unternehmen denkt man laufend über Effizienzsteigerungen nach, den Kirchenfürsten fällt als erstes Leistungsverzicht ein – auf Rekordsteuereinnahmenhöhe. Wie haben die Kirchen das wohl vorher gemacht, als die Steuereinnahmen niedriger waren, aber die Seelsorger noch Seelsorger?  Wie machen die Kirchen das in allen anderen Staaten der Welt, in denen es keine Kirchensteuer gibt? Nicht nur die Steuereinnahmen der Kirchen sind auf Rekordniveau, sondern auch ihr eigenes Anspruchsdenken. Anstatt über das eigene Anspruchsdenken nachzudenken, wir stattdessen eine immense Erwartungshaltung im „Ehrenamtsmanagement“ beklagt.

Antwort zu Christentum und Flüchtlingsfrage:  Die Kirche kann nicht losziehen und eingemeinden.

Antwort zu „Kirchenkultur“ im Wandel: Immer weniger Bestattungen. Man braucht den Pastor, den man sowieso nur von weitem kennt, nicht mehr, um unter die Erde zu kommen. Die Bestattungsredner machen das auch gut oder gar besser – sie haben als Ansporn, dass sie, im Gegensatz zu den Pastoren, ihr Geld damit verdienen. Wer nicht gut ist, bekommt keine Aufträge. Die Kirchen bekommen keine Aufträge, aber trotzdem viel Geld. Und trotzdem fragen immer weniger diesen „christlichen Dienst“ nach, obwohl er doch nichts koste, wundert sich eine Kirchenvertreterin. Und was ist mit dem Goldesel „Kirchensteuer“, fragt man sich verwundert, für was zahlt man die denn eigentlich?

Aber nicht nur die Bestattungen gehen zurück, auch die Taufen. Nur noch jedes zweite Kind wird getauft, Tendenz sinkend. Was fällt dem Kirchenvertreter dazu ein: ‚Wir müssen die Meilensteine einer kirchlichen Biografie wie Taufe und Konfirmation attraktiver gestalten, um den veränderten Familienformen gerecht zu werden“. Wie bitte? Es bleibt leider ungeklärt, was die Attraktivität der „kirchlichen Biografie“ mit veränderten Familienformen zu tun hat.

Und was gibt es zu den „leeren Kirchenbänken“ zu sagen? Alternative Formen, wie bei der Einschulung oder Erntefeste würden besser bei den Gläubigen ankommen. ???? Einschulung kommt 1x im Jahr vor und Erntefest zieht höchstens auch 1x im Jahr, und nur auf dem Dorf. Und zudem gibt es beides seit Jahr und Tag, wo ist da die „alternative Form?“, wo der Alternativentwurf?

Blick in die Zukunft gefällig? „Wir stellen Haushalts- und Stellenpläne auf“. Aber das sei nur die eine Seite.

„Wir werden auch 2030 nahe bei Gott und den Menschen sein. Wir haben zunächst immer eine inhaltliche Aufgabe. Wir sind die Körperschaft, die sinnstiftend Nächstenliebe praktiziert – selbst wenn wir in 15 Jahren eine kleine Gruppe sein werden“. 

Das muss man nochmals wiederholen, sonst glaubt man es nicht: Wir sind die Körperschaft, die sinnstiftend Nächstenliebe praktiziert. Technokratischer und bürokratischer kann man kaum kirchliches Selbstverständnis definieren. Worin die Sinnstiftung besteht, wird allerdings nicht ausgeführt und mir ist auch neu, dass eine Körperschaft Nächstenliebe „praktizieren“ kann. Hört sich nach organisierter Nächstenliebe an.

Lieber Luther, da gefriert einem das Blut in den Adern: körperschaftlich praktizierte Nächstenliebe als kirchliches Selbstverständnis. Ob Jesus das so verstanden hat mit dem Glauben? Die Krise der Kirche, worin besteht sie? In einem Kirchenpersonal, das mit einer solchen Kopfhaltung seinem unkündbaren Kirchen-Beamtenalltag nachgeht. Diese Antworten lassen tief blicken, worum es Kirche heutzutage ungeschminkt geht: um Mitgliederzahlen, Schönrechnen der Wanderungsbilanzen zwischen Taufen, Sterbenden und Kirchenaustritten, Steuereinnahmen, Haushalts- und Stellenpläne, strategische Standortwahl und Ehrenamtlichenmanagement. Ein verbeamtetes Wirtschaftsunternehmen, mit einer technokratischen Sprache und einem bürokratischen Inhalt, eben eine Körperschaft der Nächstenliebe. Das steht zumindest auf dem Etikett, ohne hier der Frage nachzugehen, worin diese technokratische Nächstenliebe genauer besteht. Der Beruf „Nächstenliebe“ auf der Visitenkarte macht sich nicht so schlecht als Verkaufsargument, denken sich wohl die Kirchenmarketingstrategen. Jedoch, nimmt ihnen der Gläubige das ab? Terbatz van Elst, die Kindesmissbraucher und der wegen seines Coming Out von seinen Kirchenämtern entbundene Priester lassen grüßen.

Die kirchlichen Würdenträger machen nicht einmal den Versuch, ihren technokratischen Ansatz zu verbergen.

Es findet keine Erwähnung:

Dass ein Problem in der Lehre bestehen könnte.
Dass die Lehrgebäude auf tönernen Füßen stehen.
Dass ihre Dogmen veraltet sind und die Kundschaft nicht mehr überzeugen.
Dass eine Legitimationslücke herrscht.
Dass die leeren Kirchen ihre Ursachen nicht in den Familien haben, sondern in den Leerformeln der Kirchen.
Dass sie den gläubigen Menschen nicht mehr ansprechen, und zwar nicht als Freizeit- oder Sozialbürger, sondern als Christ, als Gläubigen, als einer, der mit seinem Glauben ringt.( wir können nicht losziehen und eingemeinden).
Dass sie entkernt sind von ihrer ursprünglichen Kernkompetenz.
Dass es nur noch um Verwaltung der Tat geht ( Körperschaft der Nächstenliebe), nicht mehr um den Geist.
Dass die Kirchen geistlos daherkommen.
Dass der heutige Pastor kein Seelsorger mehr ist, der einem im Glauben weiterhilft, wenn nötig, sondern ein Bürokrat mit Sprechstunden wie ein Zahnarzt, sofern er überhaupt bereit ist, mit einem zu sprechen.
Dass es im Kirchenalltag um Organisation von diesem und jenem geht und nicht um Spiritualität und die Auseinandersetzung mit Glauben, Gläubigen und denen die Suchen.
Dass Glauben immer mehr außerhalb von Kirchen stattfindet, ohne Zwangsmitgliedschaft und Dogmen und Bevormundung.
Dass…

Lieber Luther, ich könnte die 95 Thesen, die ich dir schon vor 3 Jahren geschickt habe, wieder schicken, nichts hat sich zum Besseren gewendet, eher im Gegenteil. Die oben erwähnten Kirchenoberen erzählen davon Bände.  Nur eines hat sich seither für mich verändert: Ich habe die Konsequenzen mittlerweile gezogen und meine Mitgliedschaft in dieser die Kirchenmitglieder verwaltenden Bürokratie auf Kosten des Steuerzahlers mittlerweile gekündigt. Glauben geht anders als die Kirchen es vorleben. 2015 tauche auch ich in den Austrittszahlen auf - sofern sie veröffentlicht werden.

Herzliche Grüße
Deborrah

Die Zitate stammen aus der örtlichen Tageszeitung.

Freitag, 30. Oktober 2015

Luthers Bibelverständnis - Kirchenpolitik als Hidden Agenda

Lieber Luther,

ich habe mich ja schon in meinem letzten Brief mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Bibel das offenbarte Wort Gottes ist und dies negativ beantwortet. Trotzdem hat es mich beschäftigt, wie all die Missverständnisse zustande gekommen sind, wieso man ein so verdrehtes Bibelverständnis überhaupt haben kann und wieso Menschen im 21.Jahrhundert noch behaupten und lehren, die Bibel sei Gottes Wort, stellvertretend durch den Heiligen Geist in „die“ Bibel geschrieben. Es gibt die Schreiber der Texte, den Text an sich, die Leser oder Hörer, aber auch die Lehrer, die ihre Schäfchen lehren, wie man Gott und die Bibel insbesondere zu lesen und zu verstehen hat. Das Übel beginnt an der Wurzel. Darin liegt die Krux und damit will ich mich heute beschäftigen.

Es hilft zu verstehen, wie wir etwas verstehen und wieso wir verstehen, was wir verstehen. Um das zu verstehen, muss man sich mit Hermeneutik beschäftigen. Vorüberlegungen habe ich dazu schon angestellt. Die Frage stellt sich also, was das evangelisch-lutherische Grundverständnis der Bibel – in dem ich sozialisiert bin – ist, vor welchem Hintergrund es hermeneutisch zu verstehen ist und was die Schlussfolgerungen daraus sind.

Schon öfters habe ich davon berichtet, dass sich die Lutherübersetzung der Bibeltexte auf die äußeren Aspekte bezieht, wenn man dagegen die Elberfelder Übersetzung zur Hand nimmt, die inneren Aspekte des Textes zum Vorschein kommen. Anschaulich gemacht sei es am Beispiel von Psalm 34,3, Psalm 62,9 oder Psalm 127,3, am Beispiel der Geschichte vom Fischzug auf dem See Genezareth oder an vielen vergleichbaren Beispielen. Bisher habe ich die Unterschiede im praktischen Lesen der Bibel nur bemerkt, theoretisch verstanden habe ich sie aber erst jetzt.

Diese Unterschiede sind schon im lutherischen Grundverständnis angelegt. Zwei Dogmen schlagen Pflöcke ein, die bis heute Pfähle in den (evangelischen) Augen derer sind, die auf die Schrift blicken, und für die tieferen Aspekte der Texte und deren spirituelle Erfassung blind machen: Das eine Dogma „sola scriptura“ besagt, dass die Schrift klar und eindeutig ist und sich selbst auslegt. Das zweite Dogma besagt, dass die Schrift das wahre Wort Gottes beinhaltet, quasi vom Heiligen Geist selbst geschrieben worden ist.

Das „sola scriptura“ geht von der – wissenschaftlich und der Realität widerlegten – Annahme aus, dass die Heilige Schrift prinzipiell in den dort verwendeten Wörtern, im Literalsinn, universal auf Christus hin klar und verständlich lesbar sei, ebenso wie im moralischen Sinn. Voraussetzung, um die Texte überhaupt zu verstehen, sei jedoch – mit Augustinus –, dass man ein (christlich) gläubiger Mensch sei. Dem Judentum wird damit implizit abgesprochen, dass es die Texte, die durch seine religiöse Tradition erst übermittelt, verschriftlicht und bekannt sind, überhaupt „richtig“ versteht, weil es Jesus die Rolle nicht zuerkennt, die die Erfinder des Christentums, allen voran Paulus, ihm zuschreiben. Es geht um die Durchsetzung der christlichen Religion gegen das Judentum als Hidden Agenda.

Der gläubige Mensch begibt sich in diesem Verständnis in die Hand des Textes und dieser legt sich dann quasi – da vom Heiligen Geist in Eindeutigkeit und Klarheit geschrieben und geleitet – eindeutig aus, im Ergriffenwerden vom Text, eine hermeneutische Annahme, die auf Platon zurückgeht. Der gläubige Textausleger wird zu einem vom Heiligen Geist entmündigten Textausleger, zugespitzt gesagt, zu seiner Marionette. Die Trinität zwischen Vater, Sohn und Heiliger Geist wird als Tatsache unterstellt, obwohl dieses theologische Konstrukt nicht in der Bibel zu finden ist.

Die Schrift wird in dieser Sichtweise zur „Heiligen“ Schrift, von Gott selbst, über den Heiligen Geist, verfasst. Gottes Hand hat sie selbst geschrieben. Von dieser Annahme gingen auch schon die frühen Kirchenväter, wie Origines und Augustinus aus, wohl aber nicht die Verfasser der Texte selbst. Mehr als nur ein Schönheitsfehler. Die Schriften, mittlerweile wie selbstverständlich als „heilig“ bezeichnet, transportieren direkt die Botschaft Gottes an die Menschen zu deren moralischer Erneuerung. Die Buchstaben in diesen Texten werden als direktes Abbild Gottes gesehen, die einen einzigen, einfachen und festen Sinn haben.

Dass diese Annahmen nicht so einfach zu halten sind, haben schon damalige Gelehrte gesehen und deshalb weitere Hilfsgerüste geschaffen, um das ganze Gedankengebäude, mit der Schrift als theologisch kreierten alleinigen Fetisch im Mittelpunkt, nicht gleich zusammenstürzen zu lassen. Was, wenn der Interpret doch irrt, obwohl das von der Grundannahme her theoretisch nicht vorkommen kann? Die Realität hat schon damals diesem theoretischen Konstrukt nicht entsprochen. So ganz traute man den Bibellesern dann doch nicht über den Weg. Wie der – nicht gewollten – „Willkür“ in der Auslegung entgegenwirken? Mit neuen Annahmen und Konstrukten:

Philipp Melanchthon entwickelte die „Scopus“ Theorie, wonach „die“ Heilige Schrift einen einzigen, einfachen und festen Sinn habe, der sich im fortlaufenden Kontext der Aussage und mit den „Umständen der Angelegenheit“ ergebe. Die Vielfalt der Texte wird theoretisch-methodisch auf „die Hauptintention“ reduziert und unter die weitere Annahme gestellt, dass sich so ein einziger fester Sinn finden lasse. Es wird eine „Hauptintention“ suggeriert, völlig außer Acht lassend, dass es diese „Hauptintention“ bei der Vielzahl der Textschreiber über Jahrtausende schon theoretisch gar nicht geben kann, es sei denn – ja, es sei denn nicht die Schreiber haben die Texte geschrieben, sondern der Heilige Geist selbst.

Das Bindeglied zwischen Ausleger und Text seien, so Melanchthon, die sog. „locci communes“, allgemeingültige Lehren über die Hauptanliegen der Menschen, wie etwa Tugend, Sünde und Gnade. Damit ist inhaltlich und ethisch die Richtung schon festgezurrt: es geht um Tugend, Sünde und Gnade. Das kann man so sehen, muss man aber nicht. Diese Setzung führt zu einer weiteren Entmündigung des Lesers der Heiligen Schrift: Der Leser kann bei der Auffindung der „locci communes“ nicht etwa, wie bei jeder anderen Wissenschaft, auf sein ursprüngliches Wissen zurückgreifen, sondern muss sie sich von der – dogmatisch verordneten – „Autorität der Schrift“ diktieren lassen.

Doch nicht genug, der Schriftleser wird noch weiter an die Kandare genommen. Matthias Flacius Illycrius entwickelte, um ja keine anderen locci communes als die vom Autor identifizierten, aufkommen zu lassen, ein Wörterbuch der Heiligen Schrift. Dem reformatorischen Gedanken der Einheitlichkeit der Schrift und ihrer normativen Selbständigkeit wurde ein Lehrgebäude der Bibelexegese zur Seite gestellt. Die Stellung der Bibel wurde theoretisch-methodisch zu einem normativen Bollwerk ausgebaut, mit dogmatischen Vorgaben, wie sie und die moralische Botschaft dahinter zu verstehen sei. Das Luther-Lied, eine feste Burg ist unser Gott, kommt nicht von ungefähr. Luther verschanzt sich hinter den Buchstaben der Bibel wie in einer Wagenburg.

Die Texte der Bibel und ihre Schreiber derart zu erhöhen, sie quasi als gottgleiche zweite Schöpfer darzustellen, ihre Einheitlichkeit, Selbstverständlichkeit, Klarheit und Eindeutigkeit zu unterstellen, war ein Rückschritt in der bereits erreichten Ausdifferenzierung des Denkens und der hierfür erarbeiteten Methoden. Frühe Philosophen wie etwa Platon, Origines oder Augustinus, haben deutlich differenzierter gedacht, dem Textverständnis mehr Raum zur Entwicklung gegeben, und waren damit den heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen wesentlich näher, als der Rigorismus, die Engstirnigkeit und Begrenztheit des lutherischen Ansatzes der Bibelexegese. Aber gerade das Enge muss vor dem Weiten verteidigt werden, will es Bestand haben. Die Lutheraner haben deshalb selbst wiederum ein Methodengerüst aufgebaut, was sie bei der Konkurrenz jedoch, den Scholastikern, heftig abgelehnt haben. Es ist eben in der Beurteilung ein Unterschied, ob man etwas selbst tut oder die anderen.

Was hat Luther, der kein Dummkopf war, dazu gebracht, seine neue Kirche in einer Weise aufzustellen, an der sie heute noch krankt?

Die Hidden Agenda war: Kirchenpolitik. Augustinus hatte die Auslegungshoheit im Zweifelsfall dem Papst zugesprochen. Luther lehnte das Papsttum radikal ab. Also musste eine andere Lösung her, eben die dann postulierte Auslegung der Heiligen Schrift durch sich selbst. Anstelle des Papstes, wurde ein anderes menschliches Machwerk, die von Menschen zur Bibel zusammengestellten verschiedenen Schriften und deren Schreiber – unangemessen – überhöht.

Luther bekämpfte die Scholastiker, die eine – viel differenziertere – Methodik der vierfachen Auslegung der Bibel erarbeitet hatten, weil er das damalige kirchliche Lehramt und deren Macht ablehnte. Sein Gegenentwurf war die Volksbibel. Jeder sollte selbst die Bibel lesen können. Da er seine Kundschaft in der weitestgehend ungebildeten Masse sah, konnte ein auf philosophischen Feinheiten basierendes Auslegungsmodell – „willkürliche“ Auslegung lehnte er ab – nicht die Methodik seiner Wahl sein. Ein solches Szenarium wäre nicht mehr – von den kirchlichen Dogmatikern – zu beherrschen. Das gilt im Übrigen bis heute. Deshalb beschränkte er seine Lehre auf die aller äußerste Erkenntnisschicht – den Buchstaben der Heiligen Schrift -, unterfüttert mit einer entsprechenden restriktiven, die Auslegung begrenzenden Dogmatik.

Indem kurzerhand die Einheitlichkeit der Texte – trotz der historischen Vielfalt – proklamiert wurde, reduzierte sich – vordergründig – die Komplexität und die Möglichkeiten der Auslegung drastisch. Der interpretatorische Bewegungsspielraum des Bibellesers wurde streng reglementiert. Wer nicht spurt, den Bibeltext und deren Konsistenz auch nur in Frage stellt, im Rahmen der vorgegebenen Lehre versteht sich, bekommt als Etikett ungläubig und vom Heiligen Geist, dem Textschreiber, nicht geleitet. Eine ziemlich trübe Aussicht für alle Kritiker oder auch, wenn man es so sehen will, massive Einschüchterungsversuche der Abweichler. Auch das ein Gebaren, das sich bis heute in der evangelisch-lutherischen Kirche gehalten hat.

Jedoch, lieber Luther, für dich war eine Schlange eben auch keine Schlange, sondern ein Bild für den Satan, entgegen des Wortsinns. Die Theorie muss sich an der Praxis beweisen. Tut sie das nicht, taugt sie nicht zur Erklärung auch nur eines Teilausschnittes des irdischen Seins, nicht zu reden vom göttlichen Sein. Hat Jesus wirklich Tote aufgeweckt oder war das nicht doch bildlich gemeint?

Wieso in deiner Bibelübersetzung (siehe die Beispiele oben), die ich im Übrigen sehr schätze, der äußere Mensch im Vordergrund steht, wird verständlich vor dem Hintergrund der Lehre von deinem Primat des äußeren Wortes. Das verstehe ich nun auch theoretisch. Jedoch sind die Widersprüche, auch im Buchstabensinn, mittlerweile von Legionen – auch theologisch geschulter – Wissenschaftlern mit modernsten Methoden untersucht und deshalb höchst in Frage gestellt.

Vor dem Hintergrund gewinnt auch die Hidden Agenda der evangelisch-lutherischen Kirche deutlichere Konturen: Wenn man die nicht mehr haltbaren Basisannahmen zur öffentlichen Debatte stellt, bleibt nicht mehr viel übrig. Wenn man das theoretische Fundament weghaut, die Annahme der Gottgegebenheit „der“ Schrift und deren Selbstinterpretation, fällt das kirchliche Gebäude in sich zusammen und die Autoritätslücke im Lehrgebäude der evangelischen Theologie tritt zutage. Wenn nicht durch die Schrift, wie äußerst sich Gott dann? Es bleibt spannend.

Mit wahrlich reformatorischen Grüßen, lieber Luther, am Vorabend des Reformationstages 2015,

Herzliche Grüße
Deborrah


Montag, 26. Oktober 2015

Bibel - das offenbarte Wort Gottes?

Lieber Luther,

ist das Neue Testament gefährlich, frauenfeindlich, antisemitisch und homophob? So einfach ist die Frage nicht zu beantworten, deshalb muss ich nochmals an meinen letzten Brief anknüpfen. Jeder Text, so auch die biblischen Texte, haben Verfasser, die mit dem Text etwas bewirken wollen. Sie sind in einer bestimmten Zeit und Kultur, mit individuellem Bildungshintergrund des Verfassers, entstanden. Das beeinflusst was und wie sie schreiben. Davon habe ich dir schon geschrieben. Bei der Bibel, Altem und Neuen Testament, handelt es sich um eine Vielzahl solcher Texte, zusammengefasst in „der“ Schrift. Beinhaltet die Schrift das offenbarte Wort Gottes? Damit möchte ich mich heute auseinandersetzen.

Die Bibel ist ein Konglomerat aus Schriftstücken, die über viele Jahrhunderte hinweg produziert worden sind. Die Bibel ist zur Bibel geworden, indem diese verschiedenen Schriftstücke wiederum über Jahrhunderte hinweg letzten Endes kanonisiert und in ein Buch zusammengefasst wurden. Das macht sie an sich noch nicht zu etwas Besonderem. Den Homer‘schen Göttergeschichten ist es ähnlich ergangen oder Grimms Märchen.

Die Bibel wurde erst zur Bibel, indem das, was in ihr steht, durch kirchliche Zuschreibung zum Wort Gottes gemacht wurde. Gott wird zum eigentlichen Autor der Bibel erklärt. Ihr wird dadurch ein Alleinstellungsmerkmal zuerkannt, hinter dem man Gott als unanfechtbare Autorität vermutet. In Wirklichkeit sind es aber kirchliche Amtsinhaber, die diese Texte als Gotteswort postulieren und damit ihre Autorität gleich mit unantastbar machen wollen. Aus vielen Schriften wurde „die“ Schrift, garniert mit „heilig“, was half, die Autorität dieser Schriften zu unterstreichen. In der Bibel ist in keinem Text von „heiliger“ Schrift zu lesen, nur von „Schrift“, womit immer ein ganz bestimmter Text gemeint ist. Von Kirchenpolitik im Sinne von Machtsicherung ist diese angeblich heilige Zuschreibung nicht zu trennen, genauso wenig die Behauptung, dass der Vorgang der Kanonisierung göttlich inspiriert sei.

An die Stelle der traditionellen prophetischen Auslegung des göttlichen Willens im Judentum tritt in christlicher Uminterpretation die Schrift als kodifizierter Wille Gottes. Aus durch Prophetenmund gesprochenem Wort wird eine kodifizierte Buchstabenfolge, über deren Auslegung und Stellenwert bis heute gestritten wird, trotz aller dogmatischer Setzungen, dass sich „die“ Schrift als in sich konsistent selbst auslege.

Um bei der Auslegung der Schrift das Feld nicht Hinz&Kunz zu überlassen, wurde in der frühen Kirche die Auslegungshoheit dem Papst zuerkannt. Luther tat sein Scherflein dazu, um den Wortsinn der jüdischen Texte des Alten Testamentes christologisch umzuinterpretieren. Einzelne Bibeltexte werden ins Feld geführt und mit der ihnen zugesprochenen Autorität der (Schein)Beweis geführt, dass die kirchliche Lehre in ihren dogmatischen Aussagen mit „der“ Schrift und damit dem Wort Gottes übereinstimmt. Dass es „die“ Schrift niemals gegeben hat, fällt unter den Tisch. Der Gesamtzusammenhang und historische Kontext der völlig verschiedenen Texte, die Intention der Schreiber, der Tenor der Glaubenserfahrungen wird der Rechtfertigung der kirchlichen Dogmen geopfert. Theologisch angeleitete Bibelexegese, universal behauptete Verbalinspiration direkt von Gott, stellvertretend für den Rest der Menschheit empfangen.

Ist das von Gott gewollt, dass ich meine Beziehung zu Gott von der herrschenden Lehre bestimmen lasse oder ist es von ihm gewollt, dass ich diese durchschaue? Wieso sollte die kirchliche Position richtig und meine falsch sein? Mit welchem Recht setzt die Kirche mich vor Gott ins Unrecht und sich ins Recht? Kirchenrecht ist nicht Gottes Recht.

Die Bibeltexte insbesondere des Neuen Testaments wurden prägend für das christliche Ethos, für die abendländische Kultur mit ihren Vorstellungen von Gütern, Pflichten und Tugenden. Die Auseinandersetzung zwischen rechter Lehre und Irrlehre vollzieht sich im dogmatisch geleiteten Irrlichtern zwischen der Lehre von der Bibel als Wort Gottes und den modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen, in deren Spiegel diese Position ad absurdum geführt ist.

Wenn ich mein Bibel- und Christenbild, das mir in Jahrzehnten eingetrichtert wurde, so in Trümmern liegen sehe, frage ich mich, was das in der Konsequenz für mich, meinen Glauben, mein Verständnis der Bibel heißt. Eigentlich ist das einfach: Die Schrift, besser die Schriften, als das nehmen, was sie sind: Als Texte, die von Menschen für Menschen geschrieben wurden, um ihre Glaubenserfahrungen zu bezeugen und Zeugnis abzulegen von dem EINEN Gott. Die Autoren haben ihr jeweiliges Verständnis aufgeschrieben, um die Nachwelt zum Glauben an diesen Gott zu bringen, vor dem Hintergrund ihrer sozialen, kulturellen und politischen Lebenswelt. Es sind Zeugnisse dessen, wie Gott im Leben, in vielen unterschiedlichen Leben, über Jahrtausende, zu erfahren ist. Sie berichten von dem was bleibt, wenn der Mensch, der in seiner Lebenswelt verhaftet ist, geht. Ohne diese Zeugnisse weiß Mensch das nicht, hat nicht das Wissen oder die Erfahrung von diesem Gott, keine Chance sich bei diesem Gott zu bergen.

Zum Verständnis der Schriften braucht man Religion und Kirchen nicht, im Gegenteil, sie behindern und hemmen einen im Glauben, nehmen die eigene Offenheit den Texten, der schon einmal erlebten Glaubenserfahrung gegenüber und begrenzen einen auf die dogmatische Brille, verführen einen, unreflektiert nachzuplappern und die Dogmen nicht zu hinterfragen. Nur, dass man in dem Fall nicht Gott und Jesus folgt, sondern den Kirchenoberen. Es ist wie bei dem Rattenfänger von Hameln. Die Hidden Agenda wird nicht offengelegt, sondern einem von Kanzel, Ritus und Liturgie untergejubelt. Man wird, um es direkt auszudrücken, manipuliert. Man hinterfragt nicht mehr oder nicht mehr viel, da als Wahrheit von Kindesbeinen an vermittelt wird, was nichts als subjektive Setzungen, als dogmengetriebene Auslegungen der Schrift durch die Institution Kirche sind. Wenn man diese Brille absetzt, ist es wie eine Befreiung von einem Korsett, dann versteht man, was es heißt, wenn Jesus sagt: Mein Joch ist leicht. Die eigentliche Herausforderung beim Lesen der Schriften ist, die eigenen Scheuklappen, die einem aufgesetzt wurden, die Seh-, Denk-, Lese- und Handlungsverbote, zu überwinden.

Der Mensch vermag noch nicht einmal „das“ wahre Wort unter allen Menschen zu erkennen, schon gar nicht „das“ wahre Wort Gottes. Auch kein Verschriftlichtes. Jede Wahrheit auf Erden ist menschlich eingeschränkt und hält nur solange, bis jemand diese Wahrheit durch eine andere vermeintliche Wahrheit ersetzt und andere davon überzeugen kann. Unsere Wahrheiten sind zeitlich und sozial begrenzt und sind keine objektiven Wahrheiten, das heißt Wahrheiten, die alle Zeit, alle Kulturen, alle Menschen, alles Sein überdauern. Reine Wahrheit ist allein bei Gott und wir werden sie eines Tages erfahren. Menschen zu Göttern zu machen, ist Menschenwerk, nicht Gotteswerk. Wenn sich Menschen anmaßen, für Gott für andere Menschen zu entscheiden, erheben sie sich über Gott. Wenn sie aus Jesus etwas machen, was er selbst nie so gesehen hat, dann erheben sie sich über Gott. Wenn sie aus der Schrift das in Text gemeißelte Wort Gottes machen, erheben sie sich über Gott. Gott und sein Wort steht den Menschen nicht zur Disposition und nicht in ihrer Definitionshoheit.

Hat man sich erst einmal vom Kirchen-, Dogmen-, Religionsjoch befreit, ist man frei für seine Beziehung zu Gott. Uneingeschränkt kann man die Bibel- und andere Texte lesen und verstehen, was im eigenen Lebenskontext und –zusammenhang zu verstehen an der Reihe ist. Es gibt darin kein objektives Richtig und Falsch. Alles Lesen ist subjektiv und vom jeweiligen subjektiven Augenblick geprägt. In den Texten, die von Gott zeugen, scheint die Vieldimensionalität Gottes in unser eindimensionales Menschschein. Wie oft man die Bibeltexte auch liest, jedes Mal liest man sie anders, weil sich im Menschsein kein Augenblick wiederholt. Gott erschließt sich im Gesamtkontext dieser Texte im Lichte des eigenen Lebenskontexts, in der eigenen Glaubenserfahrung vor dem Hintergrund der Gesamtglaubenserfahrung. Das Zutrauen, Gott selbst in der Bibel zu erfahren, im Gesamtkontext ihn selbst zu finden, ist uns in zwei Jahrtausenden von den Kirchen genommen worden. Die Definitionsmachtanmaßung der Kirchen hat zur Entmündigung der Gläubigen geführt, aus der sie sich wieder Stück für Stück entwinden müssen. Das braucht seine Zeit. Die Entwicklung ist in vollem Gang.

Nun lieber Luther, beinhalten die Bibeltexte nun „das“ offenbarte Wort Gottes, das Gott den Schreibern in die Feder diktiert hat? Nein, „das“ Wort Gottes kennt nur Gott. Wir hören nur das Echo, das es in uns auslöst. Wenn es Stellen in der Bibel gibt, die gefährlich, frauenfeindlich, brutal, homophob sind, dann zeugen sie vom Verfasser, nicht von Gott. Aber nicht nur, auch vom Leser, der dies so wahrnimmt. Davon nächstes Mal mehr.

Herzliche Grüße
Deborrah

Sonntag, 20. September 2015

Das Neue Testament: Antisemitisch, frauenfeindlich, homophob?

Lieber Luther,

ich will nahtlos an meinen letzten Brief anknüpfen, an die These Ehrmanns, dass das Neue Testament ein gefährliches, frauenfeindliches, antisemitisches und homophobes Buch ist. Es ist natürlich so gekommen, wie es schon vorauszusehen war: Schon allein, wenn man sich der These stellt, die ja nicht so weit hergeholt ist, wenn man die Texte neutral liest, wird einem Unglauben unterstellt, wird gerichtet, mit dem Finger gezeigt, ganz unchristlich Christus im Munde führend. Aber ist es nicht eine Chance nachzudenken und Antworten zu finden, die in unsere Zeit passen? Ich will mich der These stellen, ich finde es herausfordernd, spannend. Zerbröckelt der Glaube unter den Erkenntnissen der Wissenschaft und lässt er sich wirklich nur verteidigen, indem man anfeindet, negiert und in bewährter paulinischer Tradition ausgrenzt? Nein! Die These hilft im Gegenteil zu klären, sich selbst zu klären, aufzuklären, Antworten zu finden, wo vermeintlich rechtglaubende Christen nur abkanzeln oder betreten schweigen. Sie hilft, den Glauben zu bekennen.

Die Bibel ist zunächst nichts als ein Text. Texte werden von Menschen für Menschen geschrieben. Das gilt für Altes wie Neues Testament genauso wie für jeden anderen Text. Dabei ist sowohl der Schreiber als auch der Leser nicht unabhängig von seiner sozialen, gesellschaftlichen und politisch konkreten Lebenswelt zu denken. Er schreibt und liest unter dem Einfluss seiner Realität, welche von Krieg, Flucht, Armut, Ungerechtigkeit, Ungleichverteilung, Hungersnot, Verfolgung, Verschleppung, Unterdrückung, Familienverhältnissen, Kinderlosigkeit, aber auch Wohlstand, Macht, Besitz, Herrschaftsdenken geprägt sein können. Der Schreiber schreibt zu einem gewissen Zweck, im Hinblick auf eine konkrete oder auch abstrakte Leserschaft. Er beabsichtigt mit dem Text etwas zu bewegen und das beeinflusst die Art, wie er schreibt, seine Wortwahl, die Art wie er seinen Text aufbaut und gestaltet. Ein Roman ist anders strukturiert als ein Gedicht, benutzt anderes Vokabular, einen anderen Satzbau. Jeder Schreiber hat seine persönliche Motivation, wieso er schreibt. Nicht zu vergessen: sein jeweiliger Bildungs- und Erfahrungshintergrund. All das fließt in einen Text ein. Es ist die unerzählte Geschichte hinter jeder Geschichte, auch die Geschichte hinter jeder biblischen Geschichte.

Ein salomonischer Text, der dem reichen König zugeschrieben wird, kommt zum Beispiel völlig anders daher als einer von Jeremia, der buchstäblich im Dreck lag und von einem Gefängnisloch ins andere geschleppt wurde. Er ist anders geschrieben, anders aufgebaut, benutzt ein anderes Vokabular, erzählt eine andere Geschichte, stellt unterschiedliche Dinge heraus und in den Mittelpunkt. Und doch haben sie eines gemeinsam: Beide Texte erzählen vom Glauben, wie der Glauben das Leben verändert oder verändern sollte.

Das gleiche gilt für das Neue Testament. Die Evangelien berichten über Jesu Leben. Wer sie aufgeschrieben hat, weiß man nicht wirklich zuverlässig, nur sicher, dass es keine direkten Jünger Jesu waren. Alle haben von dem, was sie schreiben, eine bestimmt Auffassung, interpretieren, ordnen ein, was sie aus ihren schriftlichen und mündlichen Quellen herauslesen, wollen eine Botschaft transportieren. Sie unterscheiden sich dadurch in Nichts von den Schreibern des Alten Testaments.

Das gilt zunächst auch für Paulus und die Schreiber in seiner Nachfolge. Der Unterschied bei Paulus ist, dass er eine neue Religion, einen neuen Glauben schafft, der Jesus zum Gott macht, aus dem Glauben an Gott einen abgeleiteten Glauben an Jesus schafft, einen Glauben, der Jesus für seine Zwecke der Abgrenzung vom Judentum nutzt. Es ist keine Theologie über Gott, sondern eine Theologie über Jesus. Damit steht er schon damals ziemlich unter Rechtfertigungsdruck. Aus Selbstrechtfertigung wird Rechtfertigung durch Glauben. Wir nicht glaubt wie ich das lehre, ist nicht gerechtfertigt vor Gott, wird als ungläubig aussortiert. Kein langes Federlesen.  Paulus kreiert ein Konzept der Trennung von Glauben und Werke, das auch seine Werke und seine Schreibe rechtfertigt, und das oft nicht dem eigenen Anspruch standhält. Er erfindet eine Theorie der Vergebung der Sünden allein durch Jesu Kreuzestod und Auferstehung, und stellvertretende Sündenvergebung durch die kirchlichen Würdenträger. Das sichert die eigene Machtbasis. Er begründet eine Religion, bei der nicht mehr Gott, sondern Jesus – stellvertretend für Gott – im Mittelpunkt steht, und dessen Stellvertreter wiederum das ernannte Kirchenpersonal ist. Aus direktem Zugang zu Gott wird Stellvertretung, und Stellvertretung der Stellvertretung.

Das paulinische Gedankenkonstrukt ist bis heute ein wackeliges Gebäude, das bei der geringsten Belastung in Erklärungsnot gerät und einzustürzen droht, nur zu retten durch neue gewagte Hilfskonstruktionen, die genauso auf tönernen Füßen stehen. Die paulinische Theologie setzte sich als „christlicher“ Glaube durch, weil diese Lehre bei den „Heiden“ kommuniziert und verbreitet wurde. Bei den Juden kam Paulus nicht so gut an. Deshalb wandte er sich den „Heiden“ zu, die ihm theologisch nichts entgegenzusetzen hatten, er hatte quasi das Monopol der christlichen Lehre, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass sie sich durchsetzte, da diese „Heiden“ die Klasse stellten, die die damalige Welt beherrschten. Paulus war, im Gegensatz zu Jesus, ein hochgebildeter Mann. Er wollte nicht umsonst mit aller Macht nach Rom. Er kannte als Pharisäer die Machtspielchen, er wusste, wenn die Mächtigen gewonnen waren, hatte er gewonnen.

Die eigentlichen Gegner des Paulus waren die echten Apostel, die Jesus gekannt hatten, und seiner Lehre nicht folgten, wie er offen zugibt. Die echten Apostel waren einfache Menschen der untersten Schicht wie Jesus selbst. Jesus war ihr in jüdischer Tradition predigender Lehrer. Paulus, der Jesus nie getroffen hatte, kannte Jesus nur vom Hörensagen und aus Erzählungen anderer. Die echten Apostel nahmen ihn nicht für voll, was sein stark ausgebildetes Ego kränkte. Es wäre wirklich interessant, Paulus mit heutigen Methoden psychiatrisch begutachten zu lassen. Was wollen die dummen analphabetischen ehemaligen Fischer ihm, dem theologisch gebildeten Pharisäer, über Glauben erzählen? Ihnen wollte er es zeigen. Er war ihnen bildungsmäßig hoch überlegen und das spielte er erfolgreich aus. Er predigte seine eigene Lehre und ein Evangelium frei von Jesu Wort. Er konnte schreiben, so gebildet, dass ihm kaum einer gedanklich folgen konnte und reden, so aggressiv, dass er Aufruhr verursachte und wo immer er auftauchte. Geschickt stellte er alle, die seiner Lehre nicht folgten, in die Ecke der Ungläubigen, so wie es seinem Beispiel folgend heute noch geschieht.

Paulus legte damit den Grundstein für eine Religion über Jesus, eine Religion, die Glauben mit der paulinischen Theologie gleichsetzt. Es klingt absurd, aber es wird jemand in den Mittelpunkt einer Religion gestellt, der selbst das nicht glaubt, was ihm später mündlich und schriftlich angetextet und antheologisiert wird. Aus Glaube an Gott wird christliche Religion über Jesus und breitet sich, als es die Religion der Herrschenden wird, über den Erdball aus. Das eigentlich konstituierende des Erfolges der christlichen Religion war ihre Verheiratung mit den Mächtigen und Herrschenden.

Noch abstrakter als das paulinische Gedankengebäude ist der Ansatz des Johannesevangeliums, das etwa 100 Jahre n.Chr. entstanden ist, unter den philosophisch-hellenistischen Einflüssen des Schreibers. Es führt das Gedankengebäude eines Jesus als fleischgewordenen göttlichen Logos ein.

Welch ein Gegensatz zu der Einfachheit Jesu. Jesus war ein fest im Judentum verankerter Wanderprediger, der die Tora gut kannte. Er stammte aus einfachsten Verhältnissen, gehörte zur untersten Schicht einer von den Römern geknechteten und ausgebeuteten Bevölkerung, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, dass er weder lesen noch schreiben konnte. Wer sollte ihm, dem armen Bauernjungen, das beigebracht haben? Vor diesem Hintergrund predigte er von einem Gott, der ihm und seinesgleichen, den Armen der Ärmsten, den Kranken und Benachteiligten, Hoffnung auf ein besseres Leben gibt. Er predigte an gegen die soziale Ungerechtigkeit, gegen die politischen, gesellschaftlichen und religiösen Unterdrücker gleichermaßen, brach ein Wort für die Vergessenen und Ausgebeuteten, für die unterste Schicht, der er angehörte, ganz in der Tradition alttestamentarischer Prediger, wie etwa Jeremia. Von der paulinischen Theologie, Gebildet- und Eingebildetheit, Weltläufigkeit und Lehre trennten ihn Welten.

Jesus hatte eine apokalyptische Weltsicht, d.h. er ging von einem Gericht am Ende der Zeit aus. Ob er das Ende bald kommen sah oder nicht, ist m.E. obwohl für die kritischen Historiker von Wichtigkeit, völlig unerheblich. Es ändert nichts daran, dass er davon ausging, dass der Mensch für das, was er tut, sich eines Tages verantworten muss. Er wäre sicher nicht auf die Idee gekommen, sich selbst als Gott zu erhöhen. Das wäre für ihn Blasphemie gewesen. Oder sich als jemand zu sehen, der zum Zweck der Sündenerlösung der gesamten Menschheit stellvertretend für die gesamte Menschheit von den Römern – von Gott so gewollt – ans Kreuz genagelt wird. Er wäre auch nicht auf die Idee gekommen, Glaube und Werke voneinander zu trennen. Der Mensch war für ihn ein im Glauben handelnder Mensch, einer der Gottes Willen tut. Davon zeugt alles, was von ihm berichtet wird. Alles, was Jesus später zugeschrieben und aus ihm gemacht wurde, hat nicht er zu vertreten und würde er auch nicht vertreten, sondern die jeweiligen Textschreiber und Religionsbegründer.

Jesus wäre nicht auf die Idee gekommen, gegen die Juden zu hetzen. Er war selbst Jude. Er prangerte das Unwesen an, aber nicht das Judentum an sich, das sein sozialer, gesellschaftlicher und kultureller Hintergrund war. Jesus wäre auch nicht auf die Idee gekommen, frauenfeindlich zu agieren. Es waren Frauen, die ihn unterhielten und durchfütterten. Viele Jüngerinnen waren in seinem Gefolge, wenngleich die patriarchal denkenden Schreiber des Neuen Testaments das möglichst vertuschen wollten, aber nicht ganz konnten. Das ist ein starkes Indiz für die wichtige Rolle der Frauen in Jesu Leben, die nicht immer zu verheimlichen war, wie sehr sich die Schreiber auch bemühten, dies zu vertuschen.

Frauen kommen in vielen Gleichnissen und Geschichten Jesu vor und sie spielen meist eine wesentlich bessere Rolle als die Männer. Jesus war nicht frauenfeindlich, die Schreiberlinge waren frauenfeindlich, allen voran Paulus, der insgesamt offensichtlich ein gestörtes Verhältnis zu Frauen und jeglicher Sexualität hatte. Er und die Verfechter der neu erfundenen Religion, die unter seinem Namen schrieben, machten die persönliche paulinische Einstellung und Disposition zu Judentum, Frauen und Sexualität zum Dogma, dem erstaunlicherweise bis heute die katholische Kirche folgt. Eigentlich ist das unfassbar. Oder vielleicht auch nicht. Es waren ausschließlich Männer, deren Schriften den Weg in die Bibel fanden, es waren Männer, die diese Dogmen aufstellten und es waren ausschließlich Männer, die die Kanonisierung der Bibel vornahmen.

Lieber Luther, ja, Teile der Texte, die den Weg in die Bibel gefunden haben, sind von frauenfeindlichen, sexualitätsgestörten, rassistischen antisemitischen Schreibern verfasst. Das sind die persönlichen Hinterlassenschaften der Schreiber. Die Bibel ist das meistgelesene Buch der Welt. Wie lesen diese vielen Leser die Bibel, wie wirkt sich, was sie lesen, auf ihr Leben aus? Ist die Bibel das wahre Wort Gottes? Ist die Bibel trotzalledem ein Glaubensdokument für mich? Viele Fragen, die noch offen sind. Demnächst weiter.

Herzliche Grüße
Deborrah.

Montag, 14. September 2015

Kirchen - Herrschaft

Lieber Luther,

schon lange habe ich kein Buch mehr von der ersten bis zur letzten Seite gelesen, da man in der Regel nach 120 Seiten die Argumentationsketten des Autors verstanden hat und sie nicht noch in zig Wiederholungen lesen muss. Nicht so bei diesem Buch:
Bart D.Ehrman, Jesus im Zerrspiegel, Die verborgenen Widersprüche in der Bibel und warum es sie gibt. Gütersloh, 2010.
Obwohl von einem Wissenschaftler geschrieben, ist es verständlich. Es beschreibt und macht die Widersprüche im Neuen Testament dem nicht theologisch gebildeten Menschen in der führenden historisch-kritischen Sichtweise offenkundig. Alles nichts Neues, jeder Theologe, jeder Pastor, müsste den Inhalt kennen. Von den Kanzeln kommt nichtsdestotrotz die orthodoxe Lehre, nach dem Motto: Augen zu, Ohren zu, damit ich nicht all die kritischen Fragen, die daraus entstehen und auf die ich keine Antwort habe, beantworten muss. Es ist ein Anliegen B.Ehrmans, dieses kollektive Verschweigen zu durchbrechen. All die unbequemen Wahrheiten, die die Forschung im letzten halben Jahrhundert ans Tageslicht befördert hat, und die nicht von der Kanzel gepredigt werden, ans Tageslicht zu befördern. Der Elfenbeinturm der kirchlichen Lehren gerät unter diesem kritischen Blickwinkel bedenklich ins Wanken, fällt an sich in sich zusammen.

Verständlich, dass Kirche als Organisation und mit seinen Angestellten alles tut, um das zu vermeiden. Wer sägt sich schon den Ast unter seinem eigenen Hintern ab. Schweigen und Ignorieren als Verteidigungsstrategie. Aber das wird nichts helfen. Unsere globale Welt mit ihren modernen Kommunikationsmedien lässt sich nicht mehr zensieren, es lässt sich nicht mehr unter den Teppich kehren, was unbequem ist. Die Menschen reagieren mit Massenflucht aus den Kirchen, leben ihren Glauben außerhalb von Kirchenlehren und Dogmen.

Glaube hat zunächst nicht unbedingt etwas mit Religion oder Kirche zu tun. Religion und Kirche bedeutet, es gibt Vordenker, denen zu folgen ist. Das Vorgedachte wird zur Orthodoxie, zur „wahren“ Lehre, zu der einen zu folgenden Wahrheit erklärt. Diese vorgegebene Wahrheit wird dann mit Zähnen und Klauen, im Zweifelsfall auch mit Waffengewalt, verteidigt. Selbst Dogmen, die nicht zu erklären sind, wie z.B. die unbefleckte Empfängnis oder die Trinitätslehre. Bis ins Irrationale werden verirrte Lehren verteidigt, unter Androhung göttlicher Strafen und ewiger Verdamnis, wenn dem nicht so gefolgt wird, wie erwartet. Das Vorgedachte, die Dogmatik, wird zum Herrschafts- und Machterhaltungsinstrument. Die Religionsgeschichte ist – bis zum heutigen Tag – voll davon. Aber vielleicht ist es auch umgekehrt: Die in Stein gemeißelte Dogmatik wird zunehmend zu einem Herrschafts- und Machtverlustinstrument. Die bisher verlässlichen Mechanismen verkehren sich in ihr Gegenteil. Die christlich dogmatische Revolution gegen Jesu Lehre frisst langsam aber sicher ihre Kinder.

Religion und Kirche ist der Versuch, mit Hilfe einer von einer Gruppe von einflussreichen Kirchen-Menschen gesetzten Dogmatik, den Glauben einer Vielzahl von einfachen Menschen-Schäfchen unter Kontrolle zu bringen. Es ist der Versuch, den Glauben von Menschen in die gewünschte Richtung zu lenken. Es ist eine Form der Manipulation des Menschen oder, wem das zu drastisch ist: der Kanalisierung der Denkströme der Menschen in die vorgedachte Richtung, die zur einzig wahren Richtung erklärt wird. Für diejenigen, die die Organisation dominieren, ist die Organisation als solches, verknüpft mit der leitenden Dogmatik, ein Mittel der eigenen Machterhaltung. Was die christlichen Kirchen, die christliche Religion anbelangt, ist das, was im Neuen Testament erscheint, in der Form, wie es erscheint, das Ergebnis dessen, was letztendlich durchgesetzt wurde und sich dann in Konsequenz auch durchgesetzt hat.

Die Mächtigen in organisierter Kirche haben dafür gesorgt, dass aus dem jüdischen Wanderprediger Jesus, der als gläubiger Jude an JHWH glaubte, durch nachjesuanische Theologie und Kirchenbildungsbestrebungen, in Abgrenzung zur jüdischen Religion, eine Religion über Jesus wurde. Auf diese Idee wäre Jesus selbst nie gekommen. Die christliche Theologie geht, kurz gesagt, über die Religion Jesu hinweg – Schwamm drüber – und macht ihn selbst zum Gott und Gegenstand ihrer Religion. Zugespitzt könnte man sagen, sie instrumentalisiert respektive missbraucht ihn für ihre Zwecke.

Gott, der für Jesus als Mensch noch direkt zugänglich war, wird nur noch vermittelt durch Jesus Christus zugänglich, sein banaler Kreuzestod wird zum Heilsgeschehen mit Erlösungseffekt uminterpretiert und stilisiert. Die Lehre wird – paulinisch inspiriert – so verkompliziert, dass aus der einfachen Lehre Jesu eine schwer nachvollziehbare Christuslehre wird, die mit ihren Annahmen und Konstrukten in sich inkonsistent und schwer vermittelbar ist. Die frühe christliche Kirche schafft damit die Grundlage für ihre Monopolstellung in der Auslegung. Was nicht verständlich ist, und wer versteht schon die ellenlangen Paulus-Sätze mit ihren vielen unnachvollziehbaren Setzungen im Neuen Testament, bedarf der Erklärung. Macht- und Einfluss der Kirchenoberen ist damit auf Jahrtausende gesichert. Einmal zur Staatsreligion erklärt, wird die Religion auch zum Herrschaftsinstrument. Die Kirchengeschichte spricht Bände.

Das hat zweitausend Jahre funktioniert, weil Macht- und Herrschaft immer auch verknüpft war mit der Herrschaft über die Kommunikation, den Kommunikationsinhalt und die Kommunikationsmittel. Der Gläubige wusste, was der Pfarrer von der Kanzel predigte. Anderes Wissen war ihm nicht zugänglich.

Die neuen Kommunikationsmedien und die globalen Kommunikationskanäle lassen sich nicht mehr so einfach von den Mächtigen und Herrschenden kontrollieren. Sie haben sich ein stückweit verselbständigt. Bildung und Wissen, Erfahrungsaustausch zwischen den Menschen, auch den Gläubigen, läuft nicht mehr nur in kirchlich organisierten und kontrollierten Kanälen. Die Menschen emanzipieren sich zunehmend von Kirche und ihren Lehren, ja sie brauchen zunehmend Kirche und ihre Lehren gar nicht mehr, um ihren Glauben zu leben. Das tut zwar nicht den Kirchen, aber dem lebendigen Glauben gut, sorgt dafür, dass trotz aller Kirchen und kirchlicher Lehren, Glauben lebendig gelebt wird. Das Kirchen- und Religionsmonopol in Sachen Glauben ist in Auflösung. Die Definitionshoheit entgleitet denjenigen, die die bisherige Definitionshoheit hatten.

Wie früher in den Katakomben, treffen sich gläubige Menschen heute im weltweiten Netz, diskutieren, tauschen sich aus, bilden moderne Hausgemeinschaften. Sie sind damit Jesus und seinem Verständnis von Glauben, Glaubensvermittlung und Glaubenserfahrung wesentlich näher als jede von Jesu Lehre entfremdete Kirchen-Herr-Schaft.

Lieber Luther, eigentlich waren das nur klärende Vorüberlegungen, die mir so durch den Kopf gingen, bevor ich mich meinem eigentlichen Anliegen zuwende. Am Ende seines Buches berichtet Ehrman von den unterschiedlichen Reaktionen seiner Studenten auf das wissenschaftlich kaum Übersehbare. Er stellt ihnen in der Regel am Ende seines Seminars eine Aufgabe, der ich mich auch stellen will. Sie sollen auf zwei Seiten eine Antwort finden auf folgende Aufgabe:
„Sie sprechen mit jemandem über den Glauben, und wie es so geht, kommt ihre Gesprächspartnerin irgendwann zur Sache. ‚Hör zu,‘ sagt sie, ‚das Neue Testament ist voller Widersprüche; wir sind nicht in der Lage zu sagen, was der Mensch Jesus tatsächlich getan hat; der Apostel Paulus hat Jesu einfache Predigt vom kommenden Reich in ein kompliziertes theologisches System von Sünde, Gericht und Erlösung verwandelt, und die meisten Verfasser des Neuen Testaments glaubten wirklich daran, dass das Ende zu ihren eigenen Lebzeiten kommen würde. Dieses Buch ist frauenfeindlich, antisemitisch und homophob, und es ist dazu benutzt worden, mit der Zeit alle möglichen Sorten grauenhafter Unterdrückung zu rechtfertigen – man braucht sich nur die Fernseh-Evangelisten anhören. Es ist ein gefährliches Buch! Wie lautet Ihre Antwort?‘ (Ehrman, S. 310 f.).
Ja, lieber Luther, wie lautet die Antwort? Meine Antwort kommt in meinem nächsten Brief…

Herzliche Grüße
Deborrah

Sonntag, 6. September 2015

Schweigen

Lieber Luther,

der entscheidende Satz im heutigen Predigttext fehlt, wurde fälschlicherweise abgeschnitten:
Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden; man wird auch nicht sagen: Siehe hier! oder: da ist es! Denn seht, das Reich Gottes ist inwendig in euch (Lk 17, 20-21).
Was hat sich zugetragen (Lk 17, 12-14)? Jesus ist ein Wanderprediger mit Charisma, dem der Ruf eines Heilers voraneilt. Zehn Menschen mit äußerlichem Gebrechen, einer Hautkrankheit, sehen ihn von weitem kommen und rufen: Meister Jesus, habe Erbarmen mit uns. Sie denken an ihre Krankheit und erwarten von ihm, dass er sie davon heilt. Man kann es ja versuchen.

Jesus macht nicht viele Worte. Erstaunlicherweise sagt er: Zeigt euch den Priestern! Wie? Was hat das mit den Priestern zu tun? Von Jesus wird die Heilung erwartet? Obwohl ihnen die Anweisung wohl seltsam erschienen sein mag, machen sie sich auf den Weg und während sie gehen, werden sie rein.

Man sieht schon, wie sich diverse Stirne in Falten legen. Wieder so eine Wundergeschichte über Jesus... Wer soll das glauben? Ist das aber wirklich eine Wundergeschichte? Oder schaut man da nur an die Oberfläche, auf die Haut der Kranken, anstatt in ihr Inneres? Ist das nicht eher eine Parabel in der Parabel?

Wieso schickt Jesus die Männer zu den Priestern? Die Priester stehen für die vermeintlich Reinen. Für diejenigen, die sich gerne mit weißer Weste darstellen. Die Aussätzigen stehen für die Verachteten, die Kranken, die Schwachen, diejenigen, die im Dreck liegen, die ihre Unreinheit förmlich auf der Haut tragen. Jeder sieht es, jeder geht ihnen aus dem Weg, sie gehören zu den Randfiguren der Gesellschaft. Priester versus Aussätzige, Rechtschaffenheit gegen kranke Kreatur, vermeintliche Reinheit gegen vermeintliche Unreinheit, Weiß gegen Schwarz, Heilige gegen Sünder, gut gegen schlecht, Privilegien gegen Chancenlosigkeit. Schubladendenken, alles gemessen mit dem Maßstab der Äußerlichkeit. Es ist ein subjektiver Maßstab, der gern als objektiv verkauft wird, aufgestellt von den Herrschenden und gemäß der durchgesetzten Regeln.

Der Spannungsbogen ist geschlagen und offensichtlich, der Leser gespannt, was wohl passieren wird. Die Männer gehen los. Wie werden wohl die feinen Herren von der Priesterschaft reagieren, wenn sie plötzlich mit diesen auf wundersame Weise geheilten Outlaws konfrontiert werden? Man erwartet dass die Priester das Heilsgeschehen erkennen, Dankeshymnen anstimmen, Dankopfer darbringen, … schließlich ist etwas Wunderbares geschehen. Dass sie neugierig sind, nachfragen. Und dann das Überraschende: Es passiert anscheinend nichts, nichts Erwähnenswertes. Schweigen.

Schweigen. Das Schweigen ist das Lauteste in der Geschichte. Das Heilsgeschehen, das unmittelbare Wirken Gottes, wird nicht gewürdigt, sondern mit eisigem Schweigen quittiert. Bis auf eine Ausnahme (Lk 17, 15-19):
Einer aber unter ihnen, da er sah, dass er geheilt war, kehrte um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel auf sein Angesicht zu seinen Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter. Jesus aber antwortete und sprach: Sind ihrer nicht die Zehn gereinigt geworden? Wo sind aber die Neun? Haben sich sonst keine gefunden, der zurückkehrten und Gott Ehre zu geben, außer diesem Fremdling? Und er sprach zu ihm: Stehe auf, gehe hin; dein Glaube hat dich gerettet.
Nur ein einziger, der sieht und erkennt, was eigentlich passiert, worin das eigentliche Heilsgeschehen liegt. Ein „Fremdling“ erkennt es, einer, der eigentlich nicht zum vermeintlich erlauchten Kreis der Eingeweihten und Geweihten gehört, einer dem nicht die Kompetenz hierfür zugesprochen wird, ein vermeintlich Ungläubiger, einer der Ausgegrenzten. Er sieht mit dem inneren Auge das göttliche Geschehen, kehrt um und dankt aus vollem Herzen. Die anderen Neun und die Priester schweigen.

Die Enttäuschung Jesu ist fast mit Händen zu greifen. Wie die Stille nach einer großen Explosion. Nachhallende Stille. Zehn Menschen hat Gott die Gnade seiner Fülle erwiesen. Nur einer erkennt es und dankt. Wo sind die neun anderen, und unausgesprochen noch viel drängender: Wo sind die Priester? Null Reaktion. Keine Einsicht. Keine Nachfragen. Kein Dankeswort. Kein Lobpreis an Gott. Schweigen, das weh tut.

Hat sich sonst keiner gefunden, der umkehrt und Gott die Ehre erweist? fragt Jesus fassungslos. Ihr habt nach Gott geschrien. Gott hat gewirkt. Hat keiner das innere Bedürfnis, Gott dafür zu danken? Ihr schreit, Gott, hab Erbarmen. Im Fordern seid ihr gut. Und wenn Gott sein Erbarmen erweist, schweigt ihr, nehmt es als selbstverständlich, schaut betreten weg, verneint es, nennt es Zufall. Ihr meint nicht Gott, ihr meint euch selbst, wenn ihr nach Gott schreit. Ihr seid euer eigener Gott, euer eigener Leitstern. Oder, nach Mt 23, 28:
Von außen erscheint ihr den Menschen fromm, aber inwendig seid ihr voller Heuchelei und Untugend.
Wie stellt ihr euch eigentlich vor, dass Gott wirkt? Habt ihr überhaupt eine Vorstellung? Wie ein Zauberer mit Hokuspokus? Wir nennen ihm unseren Wunsch und er tut ihn?

Es geht in der Geschichte ganz und gar nicht um die wundersame Heilung einer Hautkrankheit, um reine Haut, es geht um innere Reinheit, um innere Ehrlichkeit vor Gott, um die Wahrhaftigkeit gegenüber Gott. Es geht um die Übereinstimmung von äußerer und innerer Reinheit, von äußerem und innerem Sein vor Gott. Ohne innere Aufrichtigkeit vor Gott, hilft alle äußerlicher reiner Schein nichts.
Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden; man wird auch nicht sagen: Siehe hier! oder: da ist es! Denn seht, das Reich Gottes ist inwendig in euch. 
Die Neun, die nicht umgekehrt sind, nicht gedankt haben, einfach weiter gemacht haben wie bisher, haben den göttlichen Funken in sich nicht gesehen. Die innere Einsicht hat gefehlt. Auch die Priester waren nur qua Amt rein, ohne innere Wahrhaftigkeit. Aussätzige und Priester hatten die gleiche innere Armut, darin waren sie sich – trotz aller äußeren Klassengegensätze – gleich. Das wollte Jesus vor Augen führen. Es ist nicht der äußere Schein, der zählt, egal wie unterschiedlich die Lebensumstände auch sein mögen. Egal ob Aussätziger oder Priester. Vor Gott ist das unerheblich. Was zählt ist nur die Wahrhaftigkeit oder Unwahrhaftigkeit vor Gott im Äußeren und Inneren.
Jesus muss gedacht haben: Welche Zeichen müssen eigentlich noch passieren, um sie zur Umkehr zu bewegen? Die äußeren Zeichen der göttlichen Gegenwart werden nicht gewirkt, um der Zeichen willen, sondern um die innere Erkenntnis zu wecken, dass Gott gegenwärtig ist, hilft und heilt. Um zur Umkehr zu bewegen.

Wer aber mit Ohrstöpseln durch das Leben geht, in Abwehrhaltung, hört nicht Jesu Wort: Dein Glaube hat dich geheilt. Er erkennt Gottes Reich in sich nicht, erkennt nicht, wie reich er mit Gott in sich ist. Er hört nicht, wie Jeus sagt: Stehe auf und gehe hin. Dein Glaube hat dich gerettet. Dein Vertrauen, dass Gott in, mit und an dir wirkt. Gott heilt diejenigen, die sich innerlich heilen lassen. Diejenigen, die die Erkenntnis und das Wirken von Gottes Gegenwart im Jetzt zulassen.

Es sind nicht viele, auf die das zutrifft, lieber Luther. Auch das sagt diese Geschichte. Die überwiegende Mehrheit schaut weg, schweigt, ordnet nicht Gott zu, was Gott zuzuordnen ist. Mensch schreit: Gott, hab Erbarmen, wenn es ihm schlecht geht, er krank oder verzweifelt ist, wenn das Leben nicht so läuft, wie er es gern hätte. Sobald es aber körperlich und psychisch wieder geht, hat Gott ausgedient, geht es wieder weiter ohne Gott.

Was passiert, lieber Luther, so fragt man sich, mit den Neunen, mit den Priestern, den Schweigenden, den innerlich Tauben, die nur Gottes Gnade für sich reklamieren, wenn sie aber geschieht, sie nicht erkennen, sie im Gegenteil auf Abstand gehen, nicht danken, wenn es Zeit wäre, zu danken?

Jesus sagt: Dein Glaube hat die gerettet. Er sagt nicht, die Heilung deiner physischen Krankheit hat dich gerettet. Die inwendige Rettung, von der Jesus spricht, ist eine Rettung, die in die Ewigkeit fortdauert. Das wird, lieber Luther, gern verwechselt, mit Kurzzeitbrille gesehen. Wir lesen Heilung und meinen körperliches Wohlergehen. Das ist eine Rettung, die Jesus nicht meint. Das sollten wir bedenken, wenn wir in der Not Gott um Erbarmen anschreien. Der Glaube allein bringt die Rettung, die innere und äußere Wahrhaftigkeit vor Gott, nicht die Heilung unseres Körpers. Werden wir eine ehrliche Haut vor Gott, um unsere Haut zu retten. Amen.

Herzliche Grüße
Deborrah

Sonntag, 30. August 2015

Fremdenhass und Nächstenliebe

Lieber Luther,

fast jeder kennt die Geschichte, um die es im heutigen Predigttext (Lk 10, 25-37) geht: Die Geschichte vom Barmherzigen Samariter. Es geht um Menschen, die die Straßenseite wechseln, anstatt dem Bedürftigen zu helfen, und um andere Menschen, die ihren geschäftigen Alltag zurückstellen, einen Umweg machen, um zu helfen, Geld in die Hand nehmen. Die Geschichte ist brandaktuell, angesichts brennender Asylbewerberheime, toter Menschen in Transportern und untergegangener Seelenverkäufer im Mittelmeer. Welche Rolle spielen wir? Ja, du! Jeder einzelne ist gefragt.

Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.
Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme. Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!

Was ist bei dieser Geschichte eigentlich das Thema? Der Eingangsdisput zwischen Jesus und dem Schriftgelehrten dreht sich um eine zentrale Frage des Glaubens: Was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe? Es geht um das Leben eines jeden, um das Leben, auch über den physischen Tod hinaus. Ewigkeit ist eine Kategorie, die sperrig ist. Was ist Ewigkeit, was bedeutet sie für uns? Hat sie überhaupt eine Bedeutung? Kann ich etwas dazu tun? Oder bin ich nur ein Sandkorn, das in Gottes Wind treibt, losgelöst von jeglichem Können und Tun auf Gottes Ewigkeit hin?

Was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe? Jesus antwortet dem Schriftgelehrten mit einer Gegenfrage: Was steht im Gesetz? Um gleich hinterherzuschieben: Wie liest du? Wie erfasse ich Gottes Wort, wie nehme ich auf, was geschrieben steht? Was lese ich? Was verstehe ich? Welche Schlussfolgerungen ziehe ich daraus?

Der Schriftgelehrte antwortet prompt:

Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und ganzer Seele, mit allen Kräften und mit ganzem Gemüt.

Dieser Satz steht schon bei Mose und an vielen anderen Stellen des Alten Testaments (z.B. 5.Mose 6,5; 2.Chr 15, 12). Du hast wohlgeredet, sagt Jesus. Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und von ganzer Seele, mit allen Kräften, die du hast. Diene zuallererst Gott.

Aber, dem Schriftgelehrten geht es nicht darum, Gott zu dienen, sondern Jesus herauszufordern, ihm etwas Falsches zu entlocken, es geht ihm um die Theorie, darum, Jesus – den ungebildeten Mann vom Land – bloßzustellen, um sich, den theologisch Ausgebildeten, über Jesus zu stellen. Es geht ihm um Rechthaberei. Und so fragt er Jesus, wer ist mein Nächster? Er fragt nicht, was ist Nächstliebe? Er fragt nicht, was kann ich tun? Er lenkt von sich selbst ab auf den Nächsten. Das ist auch nicht weiter verwunderlich.

Worin das Gebot der Nächstenliebe besteht, ist in 3.Mose 19 ausführlichst beschrieben. Wer den Kanon in 3.Mose 19 liest, ihn in das Heute transformiert, begreift: So heiligen können wir unser tägliches Leben gar nicht, wie dort beschrieben ist. Das überfordert mich, dich, viele von uns. Da steht etwa in 3.Mose 19, 33:

Wenn ein Fremdling bei dir in eurem Land wohnen wird, den sollt ihr nicht schinden. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und sollst ihn lieben wie dich selbst. Ich bin der HERR euer Gott.

Zulassen, dass Flüchtlingsunterkünfte angezündet werden, dass Menschen elendig zugrunde gehen an anderen Menschen, zuzusehen, nichts zu tun, den Mund zu halten, wegzusehen, ist keine Nächstenliebe, da spielt ihr euch als Herren auf, nicht als Brüder. Ziemlich viele unter uns, auch diejenigen, die sich Christen und gläubig nennen, dürfen sich hier angesprochen fühlen. Wer den Mund hält und sich nicht auflehnt gegen den Fremdenhass, wechselt die Straßenseite, wie der Priester und der Levit in der Geschichte. Er tut so, als ob ihn das Ganze nichts anginge.

Was ist der Unterschied zwischen Priester und Samariter? Dem Samariter, dem scheinbar Ungläubigen, drehen sich beim Anblick des Menschen im Elend die Eingeweide um, so bewegt ihn der Anblick in Herz und Seele. Er ist in Herz und Seele ganz Mitleid und voller Erbarmen für diesen verwundeten Menschen. Er kann gar nicht anders als diesem Menschen zur Hilfe eilen. Priester und Levit sind dagegen innerlich unbeteiligt. Es drängt sie nicht, dem bedrängten Menschen zu helfen.

Im Samariter ist Jesus beschrieben: Und da er das Volk sah, jammerte es ihn (z.B. Mt 9, 36; 14,14). Als Jesus die Trauer der Menschen um Lazarus sah, drehte es ihm den Magen um. Jesus hat Mitleid mit dem Menschen im Leid, er leidet mit, er salbt den Verletzten und verbindet seine Wunden.

Unwillkürlich muss man an Psalm 23 denken: Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich mich nicht, den du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich; du bereitest mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde, du salbst mein Haupt mit Öl und schenkst mir voll ein. Samariter sein, heißt Hirte sein.

Der Samariter sieht den hilflosen Menschen, er sieht ihn als Mensch und Bruder, er lässt sich von der Hilflosigkeit des Hilfsbedürftigen berühren, ändert bei diesem Anblick seinen Tagesplan und seine Prioritäten: Anstatt um seinen Job, kümmert er sich um den Hilfsbedürftigen. Es gibt für ihn in diesem Augenblick nichts Wichtigeres mehr als diesem Menschen in Not zu helfen.

Jesus sagt, lieber Luther, so gehe hin und handle ebenso! Es ist die innere Einstellung, auf die es ankommt, ob Herz und Seele von Gott ergriffen sind, durch Herz und Seele Gottes Barmherzigkeit durchscheint. Das ist der Unterschied zwischen Priester/Levit und Samariter. Wenn das der Fall ist, kann man an einem Menschen im Elend nicht einfach vorbeigehen, wegsehen, die Straßenseite wechseln, den Mund halten, nichts tun, zusehen, wie er bedrängt und beschimpft, bedroht, eingeschüchtert, seine Unterkunft angezündet wird. Wenn wir unbeteiligt zusehen, nicht handeln, die Hände in den Schoß legen, scheint Gottes Barmherzigkeit nicht aus unseren Herzen und Seelen, sondern sie klingt nur aus unserem Mund, hohl wie beim Schriftgelehrten.

Jesus will mit der Geschichte sagen: Öffnet eure Herzen und Seelen. Gott zu lieben von ganzem Herzen und ganzer Seele heißt entsprechend zu handeln und Gott nicht nur im Mund zu führen. Du willst das ewige Leben erben? So gehe hin und handle ebenso! Amen.

Herzliche Grüße
Deborrah

Sonntag, 23. August 2015

Hephatha - Tu dich auf

Lieber Luther,

das ist so die Frage: Sind wir in unserer Beziehung zu Gott aktiv gefragt oder reicht es, wenn wir uns passiv von ihm beglücken lassen? Tu dich auf oder werde geöffnet. Das ist die Frage, die der heutige Predigttext (Mk7, 31-37) aufwirft:

Und da er wieder ausging aus der Gegend von Tyrus und Sidon, kam er an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der zehn Städte. Und sie brachten zu ihm einen Tauben, der stumm war, und sie baten ihn, dass er die Hand auf ihn legte. Und er nahm ihn von dem Volk besonders und legte ihm die Finger in die Ohren und spützte und rührte seine Zunge und sah auf gen Himmel, seufzte und sprach zu ihm: Hephatha! das ist: Tu dich auf! Und alsbald taten sich seine Ohren auf, und das Band seiner Zunge war los, und er redete recht. Und er verbot ihnen, sie sollten’s niemand sagen. Je mehr er aber verbot, je mehr sie es ausbreiteten. Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.

Die Übersetzungen sind sich nicht einig: Werde geöffnet oder öffne dich?  Wie so oft ist es ein sowohl als auch – und doch alles auch ganz anders.

Jesus seufzt. Warum seufzt er? Er ist schon länger unterwegs, von hier nach dort, um den Menschen Gottes Wort zu vermitteln, überhaupt die Kenntnis von Gott. Es gibt und gab auch schon zu der Zeit die verschiedensten Gottes- und Götterlehren. Wie den Menschen vermitteln, dass der Gott, von dem er erzählt, der EINE Gott ist? Dass seine Lehre die Lehre ist, der sie nachfolgen sollten? Für Jesus stellte sich die Frage genauso, wie sie sich denjenigen heute stellt, die Gottes Wort predigen.

Zunächst ist das eine Frage des Wissens. Wer noch nie etwas von dem EINEN Gott gehört hat, wie soll er ihm nachfolgen, wie seine Stimme hören, wie von ihm predigen, wie von ihm zeugen? Nur wenn man von ihm erzählt, öffnet man die Ohren für diesen EINEN Gott, ermuntert man, es mit ihm zu versuchen, macht man neugierig auf ihn. Wenn man ihn erfahren hat, löst das die Zunge, hat man das Bedürfnis, von seinen Erfahrungen mit Gott zu erzählen, sie weiterzutragen, andere zu ermuntern, sich für ihn zu öffnen. Zu sagen: Er ist mein Heil, er ist meine Heilung, er ist der Arzt, den ich brauche.

Jesus seufzt, weil die Menschen nur auf seine Zeichen schauen. Er seufzt, weil die Menschen ihren Blick auf die Zeichen richten, aber lauter Analphabeten sind, die sie nicht lesen können. Die Botschaft ist:

Richtet selbst eure Augen gen Himmel, wendet euch Gott zu, bittet ihn: Hephatha! Tu dich auf Gott, tu den Himmel auf und lass mich deine heilende Hand spüren, hilf mir, mich zu öffnen, dass meine Augen, meine Ohren, all meine Sinne dich erkennen und erfahren.

Indem Jesus sein Augenmerk weg von sich selbst, von der Erwartungshaltung, die auf ihn gerichtet ist, hin zu Gott richtet, ihn um Hilfe bittet: Tu dich auf! wird ihm Gottes Hilfe zuteil, so dass er heilend wirken kann. Jesus lebt vor, wie es geht. Er seufzt, weil wir nur auf das Ergebnis stieren, seine Zeichen erwarten, sie bis heute diskutieren: Ist das möglich oder sind das alles Döntjes, die da erzählt werden? Jesus seufzt, weil wir bis heute nicht begriffen haben, um was es in seiner Botschaft geht, weil wir passiv sind, eine Erwartungshaltung haben, die nicht auf Gott, sondern auf uns selbst, auf unser maximales Wohlergehen gerichtet ist. Wir maximieren unsere Erwartungshaltung auf Gott hin, und Minimieren sie, was uns selbst angeht. Was erwarten wir eigentlich von ihm? Worin besteht unsere Heilserwartung? Dass er der Retter, der Deus ex Machina, in all unseren irdischen Belangen ist? Auf unsere  Wohlfahrt gerichtet? Dass er alles heilt, was Mensch, wo immer er lebt, welchem Glauben oder Nichtglauben er auch anhängt, verbockt? Gott ist kein Zauberer, der wohlfeil herbeizaubert, was wir gern hätten.

Jesus seufzt, weil wir es ihm nicht gleichtun, weil wir nicht das Wie von ihm lernen: das Wie des Glaubens, das Wie des Vertrauens, das Wie des Betens, das Wie des sich Zurückstellens, das Wie des Lebens in Gottes Gegenwart, das Wie des kompromisslosen sich in seinen Dienst stellens.

Jesus geht es nicht um die Zeichen, nicht um das physische Heilen. Jesus geht es um das seelische Heilen, das Heil-Werden im Glauben und Vertrauen an Gott. Wenn es in der Geschichte heißt: Seine Ohren wurden aufgetan und sein Zunge gelöst, meint das: Der Mensch vernimmt plötzlich Gottes Wort, er hat es vorher nicht gehört. Wenn es heißt, seine Zunge wurde gelöst und er redete recht, dann meint das, er hat Gottes Gegenwart erfahren und erzählt es jedem, der es hören will. Wer Gottes Gegenwart erfährt, seine heilende Wirkung, redet richtig von und vor Gott. Er kann gar nicht anders, da Gott in ihm wirkt.

Und, lieber Luther, Jesus war ein guter Psychologe: Je mehr er den Menschen verbot, vom offensichtlich heilenden Wirken Gottes zu erzählen, desto mehr machten sie es „über alle Maßen“ bekannt. Nichts verbreitet sich im Alltag schneller als das, was geheim bleiben soll. Klatsch und Tratsch sind bis heute die sichersten Kommunikationsmittel, wenn man etwas an den Menschen bringen will. Das, was daran zugedichtet ist, muss man wieder abziehen, aber der Kern der Botschaft bleibt:

Gottes heilende Wirkung kann erfahren werden. Eure Öffnung ist gefragt, damit Gott sich euch eröffnet. Richtet euren Blick auf Gott und bittet ihn: Hephatha! Tu mir die Augen und Ohren auf, öffne meine Sinne und mein Herz für deine heilende Wirkung, damit auch ich heilend wirken kann.

Amen.

Herzliche Grüße
Deborrah

Sonntag, 16. August 2015

Zweiklassengesellschaft

Lieber Luther,
Der Gedanke, den Jesus im heutigen Predigttext (Lk 18, 9-14) an den Mann / die Frau bringen will, ist nicht neu.
Er sagte aber zu etlichen, die sich selbst vermaßen, daß sie fromm wären, und verachteten die andern, ein solch Gleichnis: Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, zu beten, einer ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst also: Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich habe. Und der Zöllner stand von ferne, wollte auch seine Augen nicht aufheben gen Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging hinab gerechtfertigt in sein Haus vor jenem. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.
Der Gedanke, dass es bei Gott keine Zwei- oder Mehrklassengesellschaft gibt, dass vor Gott alle gleich sind und die gleichen Rahmenbedingungen haben, ist ein Gedanke, der mit dem EINEN Gott verknüpft ist, seit es den Gedanken an ihn gibt.
Ein gesellschaftliches Oben und Unten gibt es, seit Menschen sich in größeren sozialen Verbänden organisieren. Die Evangelien sind im Kern eine Kampfansage gegen soziale Ungerechtigkeit, gegen die Unterdrückung der Kranken, Schwachen und Armen durch die Mächtigen und Wohlhabenden:
  • Gott stößt die Gewaltigen vom Stuhl und erhebt die Niedrigen (Lk 1, 52)
  • Wer sich selbst erhöht, der soll erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der soll erhöht werden (Lk 14, 11)
  • Der Größte unter euch soll euer Diener sein (Mt 23, 11)

Die Botschaft ist: Vor Gott gibt es kein Oben und Unten, keine Zweiklassengesellschaft. Jesus ist im Alten Testament verankert. Auch dort findet sich dieser Gedanke. Fast wörtlich wie bei Lukas steht es schon bei den Propheten des Alten Testaments (z.B. Dan 4, 17; Hk 21, 26):
  • Denn die sich demütigen, die erhöht er, und wer seine Augen niederschlägt, der wird genesen (Hiob 22, 29)
Dieses Wort greift Jesus auf. Es ist das Hauptthema seiner Lehre. Er hat an eigenem Leib erfahren, was es heißt, zu den Niedrigen, zu den Armen, zu den gesellschaftlich Verachteten zu zählen. Er war es. Die Arrivierten, die Phärisäer und Schriftgelehrten, machten bei den Herrschenden Stimmung gegen ihn, hoben Steine auf, bereit, sie auf ihn zu werfen. Lasst euch nicht beirren, ist Jesu Botschaft. Gott bemisst selbst, er überlässt das nicht den weltlich Herrschenden. Sein Maß ist ein anderes als das Ihrige.
Der Pharisäer im Gleichnis ist selbstgerecht. Er denkt, er sei fromm: Er hält die von Menschen gesetzten Gesetze, er achtet die Dogmen, wie das Fasten, er entrichtet seine Steuern, weil es das Recht so will. Er setzt sich selbst zum Maßstab für andere, setzt sich selbst über die anderen, zeigt mit dem Finger auf all diejenigen, die nicht so vermeintlich rechtschaffen sind wie er selbst: Danke Gott, dass ich nicht so bin wie diese Diebe, Bedrücker und Gottlosen. Danke Gott, dass ich so rechtschaffen bin. Das ist Selbsterhöhung. Jesus sagt es klar: Deine Selbstgerechtigkeit ist nicht die Gerechtigkeit, die vor Gott zählt. Vor Gott gelten Gottes Maßstäbe, nicht deine eigenen. Gott allein kennt diesen Maßstab. Er ist zu groß für Menschen, um ihn zu fassen.
Was betet dagegen der so vor Gott abgekanzelte Steuereintreiber? Er weiß, dass er einen Beruf hat, der nicht angesehen ist, dass er andere bedrückt, vielleicht sogar die Existenzgrundlage nimmt. Er erfüllt weltliche Gesetze und diese sind nicht immer gerecht, sogar manchmal höchst ungerecht, sind Ursache für die ungerechte Zweiklassengesellschaft. Aber es ist sein Beruf, er muss leben und so verdient er seinen Lebensunterhalt mit diesem Beruf, den alle verachten. Er übt einen Beruf aus, der ihn selbst auf die unterste soziale Leiter stellt. Wo aber sind die Alternativen? Er und seine Familie brauchen ein Dach über dem Kopf und jeden Tag etwas zu essen.
Der Steuereintreiber ist – im Gegensatz zum Pharisäer – selbstkritisch. Es ist ihm bewusst, dass er ein fehlbarer Mensch ist, der in dem, was er tut, nicht gerecht ist. Die Bedrückung, die er selbst ausübt, bedrückt ihn selbst und so bringt er es vor Gott. Er schlägt nicht gegen die Brust der anderen, wie der Pharisäer, er schlägt an seine eigene Brust, senkt seinen Blick angesichts seines Teiles der Schuld als Schuldeneintreiber: Gott, vergib mir, sei mir Sünder gnädig. Er ist nicht selbstgewiss, sondern demütig.
Jesu Botschaft ist: Das zählt. Dass du dich vor Gott aus ehrlichem Herzen bekennst. Dass du dich nicht selbst auf einen selbstgebauten Sockel stellst, für Gott entscheidest, was sein Recht ist, sondern es Gott überlässt. Nicht wir sind das Mass der Dinge, sondern Gott.
Lieber Luther, vor Gott gibt es keine Zweiklassengesellschaft. Was bei uns unten ist, kann bei Gott oben sein, wer bei uns Prügelknabe ist, kann bei Gott Musterknabe sein, was bei uns als schöner Schein daherkommt, kann vor Gott nicht bestehen. Gott vermisst die Welt und ihre Menschen nach seinem Maßstab, nicht nach unserem. Das gilt auch für diejenigen, die meinen das Auslegungsmonopol für die Schrift zu haben.
Jesu Botschaft ist eine Befreiungsbotschaft. Der Glaube an diesen EINEN Gott macht frei von menschlichen Bedrückungen und Zwängen. Er ermöglicht es, in Frieden mit einem selbst zu leben, unabhängig davon ob man in dieser Welt in ihrem Blick im Oben oder Unten, in den Niederungen oder in den Höhen angesiedelt ist. In der wahren Höhe gibt es nur Gott und der kennt keine Zweiklassengesellschaft. Amen.

Herzliche Grüße
Deborrah