Lieber Luther

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Montag, 26. Oktober 2015

Bibel - das offenbarte Wort Gottes?

Lieber Luther,

ist das Neue Testament gefährlich, frauenfeindlich, antisemitisch und homophob? So einfach ist die Frage nicht zu beantworten, deshalb muss ich nochmals an meinen letzten Brief anknüpfen. Jeder Text, so auch die biblischen Texte, haben Verfasser, die mit dem Text etwas bewirken wollen. Sie sind in einer bestimmten Zeit und Kultur, mit individuellem Bildungshintergrund des Verfassers, entstanden. Das beeinflusst was und wie sie schreiben. Davon habe ich dir schon geschrieben. Bei der Bibel, Altem und Neuen Testament, handelt es sich um eine Vielzahl solcher Texte, zusammengefasst in „der“ Schrift. Beinhaltet die Schrift das offenbarte Wort Gottes? Damit möchte ich mich heute auseinandersetzen.

Die Bibel ist ein Konglomerat aus Schriftstücken, die über viele Jahrhunderte hinweg produziert worden sind. Die Bibel ist zur Bibel geworden, indem diese verschiedenen Schriftstücke wiederum über Jahrhunderte hinweg letzten Endes kanonisiert und in ein Buch zusammengefasst wurden. Das macht sie an sich noch nicht zu etwas Besonderem. Den Homer‘schen Göttergeschichten ist es ähnlich ergangen oder Grimms Märchen.

Die Bibel wurde erst zur Bibel, indem das, was in ihr steht, durch kirchliche Zuschreibung zum Wort Gottes gemacht wurde. Gott wird zum eigentlichen Autor der Bibel erklärt. Ihr wird dadurch ein Alleinstellungsmerkmal zuerkannt, hinter dem man Gott als unanfechtbare Autorität vermutet. In Wirklichkeit sind es aber kirchliche Amtsinhaber, die diese Texte als Gotteswort postulieren und damit ihre Autorität gleich mit unantastbar machen wollen. Aus vielen Schriften wurde „die“ Schrift, garniert mit „heilig“, was half, die Autorität dieser Schriften zu unterstreichen. In der Bibel ist in keinem Text von „heiliger“ Schrift zu lesen, nur von „Schrift“, womit immer ein ganz bestimmter Text gemeint ist. Von Kirchenpolitik im Sinne von Machtsicherung ist diese angeblich heilige Zuschreibung nicht zu trennen, genauso wenig die Behauptung, dass der Vorgang der Kanonisierung göttlich inspiriert sei.

An die Stelle der traditionellen prophetischen Auslegung des göttlichen Willens im Judentum tritt in christlicher Uminterpretation die Schrift als kodifizierter Wille Gottes. Aus durch Prophetenmund gesprochenem Wort wird eine kodifizierte Buchstabenfolge, über deren Auslegung und Stellenwert bis heute gestritten wird, trotz aller dogmatischer Setzungen, dass sich „die“ Schrift als in sich konsistent selbst auslege.

Um bei der Auslegung der Schrift das Feld nicht Hinz&Kunz zu überlassen, wurde in der frühen Kirche die Auslegungshoheit dem Papst zuerkannt. Luther tat sein Scherflein dazu, um den Wortsinn der jüdischen Texte des Alten Testamentes christologisch umzuinterpretieren. Einzelne Bibeltexte werden ins Feld geführt und mit der ihnen zugesprochenen Autorität der (Schein)Beweis geführt, dass die kirchliche Lehre in ihren dogmatischen Aussagen mit „der“ Schrift und damit dem Wort Gottes übereinstimmt. Dass es „die“ Schrift niemals gegeben hat, fällt unter den Tisch. Der Gesamtzusammenhang und historische Kontext der völlig verschiedenen Texte, die Intention der Schreiber, der Tenor der Glaubenserfahrungen wird der Rechtfertigung der kirchlichen Dogmen geopfert. Theologisch angeleitete Bibelexegese, universal behauptete Verbalinspiration direkt von Gott, stellvertretend für den Rest der Menschheit empfangen.

Ist das von Gott gewollt, dass ich meine Beziehung zu Gott von der herrschenden Lehre bestimmen lasse oder ist es von ihm gewollt, dass ich diese durchschaue? Wieso sollte die kirchliche Position richtig und meine falsch sein? Mit welchem Recht setzt die Kirche mich vor Gott ins Unrecht und sich ins Recht? Kirchenrecht ist nicht Gottes Recht.

Die Bibeltexte insbesondere des Neuen Testaments wurden prägend für das christliche Ethos, für die abendländische Kultur mit ihren Vorstellungen von Gütern, Pflichten und Tugenden. Die Auseinandersetzung zwischen rechter Lehre und Irrlehre vollzieht sich im dogmatisch geleiteten Irrlichtern zwischen der Lehre von der Bibel als Wort Gottes und den modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen, in deren Spiegel diese Position ad absurdum geführt ist.

Wenn ich mein Bibel- und Christenbild, das mir in Jahrzehnten eingetrichtert wurde, so in Trümmern liegen sehe, frage ich mich, was das in der Konsequenz für mich, meinen Glauben, mein Verständnis der Bibel heißt. Eigentlich ist das einfach: Die Schrift, besser die Schriften, als das nehmen, was sie sind: Als Texte, die von Menschen für Menschen geschrieben wurden, um ihre Glaubenserfahrungen zu bezeugen und Zeugnis abzulegen von dem EINEN Gott. Die Autoren haben ihr jeweiliges Verständnis aufgeschrieben, um die Nachwelt zum Glauben an diesen Gott zu bringen, vor dem Hintergrund ihrer sozialen, kulturellen und politischen Lebenswelt. Es sind Zeugnisse dessen, wie Gott im Leben, in vielen unterschiedlichen Leben, über Jahrtausende, zu erfahren ist. Sie berichten von dem was bleibt, wenn der Mensch, der in seiner Lebenswelt verhaftet ist, geht. Ohne diese Zeugnisse weiß Mensch das nicht, hat nicht das Wissen oder die Erfahrung von diesem Gott, keine Chance sich bei diesem Gott zu bergen.

Zum Verständnis der Schriften braucht man Religion und Kirchen nicht, im Gegenteil, sie behindern und hemmen einen im Glauben, nehmen die eigene Offenheit den Texten, der schon einmal erlebten Glaubenserfahrung gegenüber und begrenzen einen auf die dogmatische Brille, verführen einen, unreflektiert nachzuplappern und die Dogmen nicht zu hinterfragen. Nur, dass man in dem Fall nicht Gott und Jesus folgt, sondern den Kirchenoberen. Es ist wie bei dem Rattenfänger von Hameln. Die Hidden Agenda wird nicht offengelegt, sondern einem von Kanzel, Ritus und Liturgie untergejubelt. Man wird, um es direkt auszudrücken, manipuliert. Man hinterfragt nicht mehr oder nicht mehr viel, da als Wahrheit von Kindesbeinen an vermittelt wird, was nichts als subjektive Setzungen, als dogmengetriebene Auslegungen der Schrift durch die Institution Kirche sind. Wenn man diese Brille absetzt, ist es wie eine Befreiung von einem Korsett, dann versteht man, was es heißt, wenn Jesus sagt: Mein Joch ist leicht. Die eigentliche Herausforderung beim Lesen der Schriften ist, die eigenen Scheuklappen, die einem aufgesetzt wurden, die Seh-, Denk-, Lese- und Handlungsverbote, zu überwinden.

Der Mensch vermag noch nicht einmal „das“ wahre Wort unter allen Menschen zu erkennen, schon gar nicht „das“ wahre Wort Gottes. Auch kein Verschriftlichtes. Jede Wahrheit auf Erden ist menschlich eingeschränkt und hält nur solange, bis jemand diese Wahrheit durch eine andere vermeintliche Wahrheit ersetzt und andere davon überzeugen kann. Unsere Wahrheiten sind zeitlich und sozial begrenzt und sind keine objektiven Wahrheiten, das heißt Wahrheiten, die alle Zeit, alle Kulturen, alle Menschen, alles Sein überdauern. Reine Wahrheit ist allein bei Gott und wir werden sie eines Tages erfahren. Menschen zu Göttern zu machen, ist Menschenwerk, nicht Gotteswerk. Wenn sich Menschen anmaßen, für Gott für andere Menschen zu entscheiden, erheben sie sich über Gott. Wenn sie aus Jesus etwas machen, was er selbst nie so gesehen hat, dann erheben sie sich über Gott. Wenn sie aus der Schrift das in Text gemeißelte Wort Gottes machen, erheben sie sich über Gott. Gott und sein Wort steht den Menschen nicht zur Disposition und nicht in ihrer Definitionshoheit.

Hat man sich erst einmal vom Kirchen-, Dogmen-, Religionsjoch befreit, ist man frei für seine Beziehung zu Gott. Uneingeschränkt kann man die Bibel- und andere Texte lesen und verstehen, was im eigenen Lebenskontext und –zusammenhang zu verstehen an der Reihe ist. Es gibt darin kein objektives Richtig und Falsch. Alles Lesen ist subjektiv und vom jeweiligen subjektiven Augenblick geprägt. In den Texten, die von Gott zeugen, scheint die Vieldimensionalität Gottes in unser eindimensionales Menschschein. Wie oft man die Bibeltexte auch liest, jedes Mal liest man sie anders, weil sich im Menschsein kein Augenblick wiederholt. Gott erschließt sich im Gesamtkontext dieser Texte im Lichte des eigenen Lebenskontexts, in der eigenen Glaubenserfahrung vor dem Hintergrund der Gesamtglaubenserfahrung. Das Zutrauen, Gott selbst in der Bibel zu erfahren, im Gesamtkontext ihn selbst zu finden, ist uns in zwei Jahrtausenden von den Kirchen genommen worden. Die Definitionsmachtanmaßung der Kirchen hat zur Entmündigung der Gläubigen geführt, aus der sie sich wieder Stück für Stück entwinden müssen. Das braucht seine Zeit. Die Entwicklung ist in vollem Gang.

Nun lieber Luther, beinhalten die Bibeltexte nun „das“ offenbarte Wort Gottes, das Gott den Schreibern in die Feder diktiert hat? Nein, „das“ Wort Gottes kennt nur Gott. Wir hören nur das Echo, das es in uns auslöst. Wenn es Stellen in der Bibel gibt, die gefährlich, frauenfeindlich, brutal, homophob sind, dann zeugen sie vom Verfasser, nicht von Gott. Aber nicht nur, auch vom Leser, der dies so wahrnimmt. Davon nächstes Mal mehr.

Herzliche Grüße
Deborrah

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