schon lange habe ich kein Buch mehr von der ersten bis zur letzten Seite gelesen, da man in der Regel nach 120 Seiten die Argumentationsketten des Autors verstanden hat und sie nicht noch in zig Wiederholungen lesen muss. Nicht so bei diesem Buch:
Bart D.Ehrman, Jesus im Zerrspiegel, Die verborgenen Widersprüche in der Bibel und warum es sie gibt. Gütersloh, 2010.Obwohl von einem Wissenschaftler geschrieben, ist es verständlich. Es beschreibt und macht die Widersprüche im Neuen Testament dem nicht theologisch gebildeten Menschen in der führenden historisch-kritischen Sichtweise offenkundig. Alles nichts Neues, jeder Theologe, jeder Pastor, müsste den Inhalt kennen. Von den Kanzeln kommt nichtsdestotrotz die orthodoxe Lehre, nach dem Motto: Augen zu, Ohren zu, damit ich nicht all die kritischen Fragen, die daraus entstehen und auf die ich keine Antwort habe, beantworten muss. Es ist ein Anliegen B.Ehrmans, dieses kollektive Verschweigen zu durchbrechen. All die unbequemen Wahrheiten, die die Forschung im letzten halben Jahrhundert ans Tageslicht befördert hat, und die nicht von der Kanzel gepredigt werden, ans Tageslicht zu befördern. Der Elfenbeinturm der kirchlichen Lehren gerät unter diesem kritischen Blickwinkel bedenklich ins Wanken, fällt an sich in sich zusammen.
Verständlich, dass Kirche als Organisation und mit seinen Angestellten alles tut, um das zu vermeiden. Wer sägt sich schon den Ast unter seinem eigenen Hintern ab. Schweigen und Ignorieren als Verteidigungsstrategie. Aber das wird nichts helfen. Unsere globale Welt mit ihren modernen Kommunikationsmedien lässt sich nicht mehr zensieren, es lässt sich nicht mehr unter den Teppich kehren, was unbequem ist. Die Menschen reagieren mit Massenflucht aus den Kirchen, leben ihren Glauben außerhalb von Kirchenlehren und Dogmen.
Glaube hat zunächst nicht unbedingt etwas mit Religion oder Kirche zu tun. Religion und Kirche bedeutet, es gibt Vordenker, denen zu folgen ist. Das Vorgedachte wird zur Orthodoxie, zur „wahren“ Lehre, zu der einen zu folgenden Wahrheit erklärt. Diese vorgegebene Wahrheit wird dann mit Zähnen und Klauen, im Zweifelsfall auch mit Waffengewalt, verteidigt. Selbst Dogmen, die nicht zu erklären sind, wie z.B. die unbefleckte Empfängnis oder die Trinitätslehre. Bis ins Irrationale werden verirrte Lehren verteidigt, unter Androhung göttlicher Strafen und ewiger Verdamnis, wenn dem nicht so gefolgt wird, wie erwartet. Das Vorgedachte, die Dogmatik, wird zum Herrschafts- und Machterhaltungsinstrument. Die Religionsgeschichte ist – bis zum heutigen Tag – voll davon. Aber vielleicht ist es auch umgekehrt: Die in Stein gemeißelte Dogmatik wird zunehmend zu einem Herrschafts- und Machtverlustinstrument. Die bisher verlässlichen Mechanismen verkehren sich in ihr Gegenteil. Die christlich dogmatische Revolution gegen Jesu Lehre frisst langsam aber sicher ihre Kinder.
Religion und Kirche ist der Versuch, mit Hilfe einer von einer Gruppe von einflussreichen Kirchen-Menschen gesetzten Dogmatik, den Glauben einer Vielzahl von einfachen Menschen-Schäfchen unter Kontrolle zu bringen. Es ist der Versuch, den Glauben von Menschen in die gewünschte Richtung zu lenken. Es ist eine Form der Manipulation des Menschen oder, wem das zu drastisch ist: der Kanalisierung der Denkströme der Menschen in die vorgedachte Richtung, die zur einzig wahren Richtung erklärt wird. Für diejenigen, die die Organisation dominieren, ist die Organisation als solches, verknüpft mit der leitenden Dogmatik, ein Mittel der eigenen Machterhaltung. Was die christlichen Kirchen, die christliche Religion anbelangt, ist das, was im Neuen Testament erscheint, in der Form, wie es erscheint, das Ergebnis dessen, was letztendlich durchgesetzt wurde und sich dann in Konsequenz auch durchgesetzt hat.
Die Mächtigen in organisierter Kirche haben dafür gesorgt, dass aus dem jüdischen Wanderprediger Jesus, der als gläubiger Jude an JHWH glaubte, durch nachjesuanische Theologie und Kirchenbildungsbestrebungen, in Abgrenzung zur jüdischen Religion, eine Religion über Jesus wurde. Auf diese Idee wäre Jesus selbst nie gekommen. Die christliche Theologie geht, kurz gesagt, über die Religion Jesu hinweg – Schwamm drüber – und macht ihn selbst zum Gott und Gegenstand ihrer Religion. Zugespitzt könnte man sagen, sie instrumentalisiert respektive missbraucht ihn für ihre Zwecke.
Gott, der für Jesus als Mensch noch direkt zugänglich war, wird nur noch vermittelt durch Jesus Christus zugänglich, sein banaler Kreuzestod wird zum Heilsgeschehen mit Erlösungseffekt uminterpretiert und stilisiert. Die Lehre wird – paulinisch inspiriert – so verkompliziert, dass aus der einfachen Lehre Jesu eine schwer nachvollziehbare Christuslehre wird, die mit ihren Annahmen und Konstrukten in sich inkonsistent und schwer vermittelbar ist. Die frühe christliche Kirche schafft damit die Grundlage für ihre Monopolstellung in der Auslegung. Was nicht verständlich ist, und wer versteht schon die ellenlangen Paulus-Sätze mit ihren vielen unnachvollziehbaren Setzungen im Neuen Testament, bedarf der Erklärung. Macht- und Einfluss der Kirchenoberen ist damit auf Jahrtausende gesichert. Einmal zur Staatsreligion erklärt, wird die Religion auch zum Herrschaftsinstrument. Die Kirchengeschichte spricht Bände.
Das hat zweitausend Jahre funktioniert, weil Macht- und Herrschaft immer auch verknüpft war mit der Herrschaft über die Kommunikation, den Kommunikationsinhalt und die Kommunikationsmittel. Der Gläubige wusste, was der Pfarrer von der Kanzel predigte. Anderes Wissen war ihm nicht zugänglich.
Die neuen Kommunikationsmedien und die globalen Kommunikationskanäle lassen sich nicht mehr so einfach von den Mächtigen und Herrschenden kontrollieren. Sie haben sich ein stückweit verselbständigt. Bildung und Wissen, Erfahrungsaustausch zwischen den Menschen, auch den Gläubigen, läuft nicht mehr nur in kirchlich organisierten und kontrollierten Kanälen. Die Menschen emanzipieren sich zunehmend von Kirche und ihren Lehren, ja sie brauchen zunehmend Kirche und ihre Lehren gar nicht mehr, um ihren Glauben zu leben. Das tut zwar nicht den Kirchen, aber dem lebendigen Glauben gut, sorgt dafür, dass trotz aller Kirchen und kirchlicher Lehren, Glauben lebendig gelebt wird. Das Kirchen- und Religionsmonopol in Sachen Glauben ist in Auflösung. Die Definitionshoheit entgleitet denjenigen, die die bisherige Definitionshoheit hatten.
Wie früher in den Katakomben, treffen sich gläubige Menschen heute im weltweiten Netz, diskutieren, tauschen sich aus, bilden moderne Hausgemeinschaften. Sie sind damit Jesus und seinem Verständnis von Glauben, Glaubensvermittlung und Glaubenserfahrung wesentlich näher als jede von Jesu Lehre entfremdete Kirchen-Herr-Schaft.
Lieber Luther, eigentlich waren das nur klärende Vorüberlegungen, die mir so durch den Kopf gingen, bevor ich mich meinem eigentlichen Anliegen zuwende. Am Ende seines Buches berichtet Ehrman von den unterschiedlichen Reaktionen seiner Studenten auf das wissenschaftlich kaum Übersehbare. Er stellt ihnen in der Regel am Ende seines Seminars eine Aufgabe, der ich mich auch stellen will. Sie sollen auf zwei Seiten eine Antwort finden auf folgende Aufgabe:
„Sie sprechen mit jemandem über den Glauben, und wie es so geht, kommt ihre Gesprächspartnerin irgendwann zur Sache. ‚Hör zu,‘ sagt sie, ‚das Neue Testament ist voller Widersprüche; wir sind nicht in der Lage zu sagen, was der Mensch Jesus tatsächlich getan hat; der Apostel Paulus hat Jesu einfache Predigt vom kommenden Reich in ein kompliziertes theologisches System von Sünde, Gericht und Erlösung verwandelt, und die meisten Verfasser des Neuen Testaments glaubten wirklich daran, dass das Ende zu ihren eigenen Lebzeiten kommen würde. Dieses Buch ist frauenfeindlich, antisemitisch und homophob, und es ist dazu benutzt worden, mit der Zeit alle möglichen Sorten grauenhafter Unterdrückung zu rechtfertigen – man braucht sich nur die Fernseh-Evangelisten anhören. Es ist ein gefährliches Buch! Wie lautet Ihre Antwort?‘ (Ehrman, S. 310 f.).Ja, lieber Luther, wie lautet die Antwort? Meine Antwort kommt in meinem nächsten Brief…
Herzliche Grüße
Deborrah
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