Lieber Luther

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Sonntag, 30. August 2015

Fremdenhass und Nächstenliebe

Lieber Luther,

fast jeder kennt die Geschichte, um die es im heutigen Predigttext (Lk 10, 25-37) geht: Die Geschichte vom Barmherzigen Samariter. Es geht um Menschen, die die Straßenseite wechseln, anstatt dem Bedürftigen zu helfen, und um andere Menschen, die ihren geschäftigen Alltag zurückstellen, einen Umweg machen, um zu helfen, Geld in die Hand nehmen. Die Geschichte ist brandaktuell, angesichts brennender Asylbewerberheime, toter Menschen in Transportern und untergegangener Seelenverkäufer im Mittelmeer. Welche Rolle spielen wir? Ja, du! Jeder einzelne ist gefragt.

Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.
Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme. Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!

Was ist bei dieser Geschichte eigentlich das Thema? Der Eingangsdisput zwischen Jesus und dem Schriftgelehrten dreht sich um eine zentrale Frage des Glaubens: Was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe? Es geht um das Leben eines jeden, um das Leben, auch über den physischen Tod hinaus. Ewigkeit ist eine Kategorie, die sperrig ist. Was ist Ewigkeit, was bedeutet sie für uns? Hat sie überhaupt eine Bedeutung? Kann ich etwas dazu tun? Oder bin ich nur ein Sandkorn, das in Gottes Wind treibt, losgelöst von jeglichem Können und Tun auf Gottes Ewigkeit hin?

Was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe? Jesus antwortet dem Schriftgelehrten mit einer Gegenfrage: Was steht im Gesetz? Um gleich hinterherzuschieben: Wie liest du? Wie erfasse ich Gottes Wort, wie nehme ich auf, was geschrieben steht? Was lese ich? Was verstehe ich? Welche Schlussfolgerungen ziehe ich daraus?

Der Schriftgelehrte antwortet prompt:

Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und ganzer Seele, mit allen Kräften und mit ganzem Gemüt.

Dieser Satz steht schon bei Mose und an vielen anderen Stellen des Alten Testaments (z.B. 5.Mose 6,5; 2.Chr 15, 12). Du hast wohlgeredet, sagt Jesus. Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und von ganzer Seele, mit allen Kräften, die du hast. Diene zuallererst Gott.

Aber, dem Schriftgelehrten geht es nicht darum, Gott zu dienen, sondern Jesus herauszufordern, ihm etwas Falsches zu entlocken, es geht ihm um die Theorie, darum, Jesus – den ungebildeten Mann vom Land – bloßzustellen, um sich, den theologisch Ausgebildeten, über Jesus zu stellen. Es geht ihm um Rechthaberei. Und so fragt er Jesus, wer ist mein Nächster? Er fragt nicht, was ist Nächstliebe? Er fragt nicht, was kann ich tun? Er lenkt von sich selbst ab auf den Nächsten. Das ist auch nicht weiter verwunderlich.

Worin das Gebot der Nächstenliebe besteht, ist in 3.Mose 19 ausführlichst beschrieben. Wer den Kanon in 3.Mose 19 liest, ihn in das Heute transformiert, begreift: So heiligen können wir unser tägliches Leben gar nicht, wie dort beschrieben ist. Das überfordert mich, dich, viele von uns. Da steht etwa in 3.Mose 19, 33:

Wenn ein Fremdling bei dir in eurem Land wohnen wird, den sollt ihr nicht schinden. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und sollst ihn lieben wie dich selbst. Ich bin der HERR euer Gott.

Zulassen, dass Flüchtlingsunterkünfte angezündet werden, dass Menschen elendig zugrunde gehen an anderen Menschen, zuzusehen, nichts zu tun, den Mund zu halten, wegzusehen, ist keine Nächstenliebe, da spielt ihr euch als Herren auf, nicht als Brüder. Ziemlich viele unter uns, auch diejenigen, die sich Christen und gläubig nennen, dürfen sich hier angesprochen fühlen. Wer den Mund hält und sich nicht auflehnt gegen den Fremdenhass, wechselt die Straßenseite, wie der Priester und der Levit in der Geschichte. Er tut so, als ob ihn das Ganze nichts anginge.

Was ist der Unterschied zwischen Priester und Samariter? Dem Samariter, dem scheinbar Ungläubigen, drehen sich beim Anblick des Menschen im Elend die Eingeweide um, so bewegt ihn der Anblick in Herz und Seele. Er ist in Herz und Seele ganz Mitleid und voller Erbarmen für diesen verwundeten Menschen. Er kann gar nicht anders als diesem Menschen zur Hilfe eilen. Priester und Levit sind dagegen innerlich unbeteiligt. Es drängt sie nicht, dem bedrängten Menschen zu helfen.

Im Samariter ist Jesus beschrieben: Und da er das Volk sah, jammerte es ihn (z.B. Mt 9, 36; 14,14). Als Jesus die Trauer der Menschen um Lazarus sah, drehte es ihm den Magen um. Jesus hat Mitleid mit dem Menschen im Leid, er leidet mit, er salbt den Verletzten und verbindet seine Wunden.

Unwillkürlich muss man an Psalm 23 denken: Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich mich nicht, den du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich; du bereitest mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde, du salbst mein Haupt mit Öl und schenkst mir voll ein. Samariter sein, heißt Hirte sein.

Der Samariter sieht den hilflosen Menschen, er sieht ihn als Mensch und Bruder, er lässt sich von der Hilflosigkeit des Hilfsbedürftigen berühren, ändert bei diesem Anblick seinen Tagesplan und seine Prioritäten: Anstatt um seinen Job, kümmert er sich um den Hilfsbedürftigen. Es gibt für ihn in diesem Augenblick nichts Wichtigeres mehr als diesem Menschen in Not zu helfen.

Jesus sagt, lieber Luther, so gehe hin und handle ebenso! Es ist die innere Einstellung, auf die es ankommt, ob Herz und Seele von Gott ergriffen sind, durch Herz und Seele Gottes Barmherzigkeit durchscheint. Das ist der Unterschied zwischen Priester/Levit und Samariter. Wenn das der Fall ist, kann man an einem Menschen im Elend nicht einfach vorbeigehen, wegsehen, die Straßenseite wechseln, den Mund halten, nichts tun, zusehen, wie er bedrängt und beschimpft, bedroht, eingeschüchtert, seine Unterkunft angezündet wird. Wenn wir unbeteiligt zusehen, nicht handeln, die Hände in den Schoß legen, scheint Gottes Barmherzigkeit nicht aus unseren Herzen und Seelen, sondern sie klingt nur aus unserem Mund, hohl wie beim Schriftgelehrten.

Jesus will mit der Geschichte sagen: Öffnet eure Herzen und Seelen. Gott zu lieben von ganzem Herzen und ganzer Seele heißt entsprechend zu handeln und Gott nicht nur im Mund zu führen. Du willst das ewige Leben erben? So gehe hin und handle ebenso! Amen.

Herzliche Grüße
Deborrah

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