Lieber Luther,
ich habe mich ja schon in meinem letzten Brief mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Bibel das offenbarte Wort Gottes ist und dies negativ beantwortet. Trotzdem hat es mich beschäftigt, wie all die Missverständnisse zustande gekommen sind, wieso man ein so verdrehtes Bibelverständnis überhaupt haben kann und wieso Menschen im 21.Jahrhundert noch behaupten und lehren, die Bibel sei Gottes Wort, stellvertretend durch den Heiligen Geist in „die“ Bibel geschrieben. Es gibt die Schreiber der Texte, den Text an sich, die Leser oder Hörer, aber auch die Lehrer, die ihre Schäfchen lehren, wie man Gott und die Bibel insbesondere zu lesen und zu verstehen hat. Das Übel beginnt an der Wurzel. Darin liegt die Krux und damit will ich mich heute beschäftigen.
Es hilft zu verstehen, wie wir etwas verstehen und wieso wir verstehen, was wir verstehen. Um das zu verstehen, muss man sich mit Hermeneutik beschäftigen. Vorüberlegungen habe ich dazu schon angestellt. Die Frage stellt sich also, was das evangelisch-lutherische Grundverständnis der Bibel – in dem ich sozialisiert bin – ist, vor welchem Hintergrund es hermeneutisch zu verstehen ist und was die Schlussfolgerungen daraus sind.
Schon öfters habe ich davon berichtet, dass sich die Lutherübersetzung der Bibeltexte auf die äußeren Aspekte bezieht, wenn man dagegen die Elberfelder Übersetzung zur Hand nimmt, die inneren Aspekte des Textes zum Vorschein kommen. Anschaulich gemacht sei es am Beispiel von Psalm 34,3, Psalm 62,9 oder Psalm 127,3, am Beispiel der Geschichte vom Fischzug auf dem See Genezareth oder an vielen vergleichbaren Beispielen. Bisher habe ich die Unterschiede im praktischen Lesen der Bibel nur bemerkt, theoretisch verstanden habe ich sie aber erst jetzt.
Diese Unterschiede sind schon im lutherischen Grundverständnis angelegt. Zwei Dogmen schlagen Pflöcke ein, die bis heute Pfähle in den (evangelischen) Augen derer sind, die auf die Schrift blicken, und für die tieferen Aspekte der Texte und deren spirituelle Erfassung blind machen: Das eine Dogma „sola scriptura“ besagt, dass die Schrift klar und eindeutig ist und sich selbst auslegt. Das zweite Dogma besagt, dass die Schrift das wahre Wort Gottes beinhaltet, quasi vom Heiligen Geist selbst geschrieben worden ist.
Das „sola scriptura“ geht von der – wissenschaftlich und der Realität widerlegten – Annahme aus, dass die Heilige Schrift prinzipiell in den dort verwendeten Wörtern, im Literalsinn, universal auf Christus hin klar und verständlich lesbar sei, ebenso wie im moralischen Sinn. Voraussetzung, um die Texte überhaupt zu verstehen, sei jedoch – mit Augustinus –, dass man ein (christlich) gläubiger Mensch sei. Dem Judentum wird damit implizit abgesprochen, dass es die Texte, die durch seine religiöse Tradition erst übermittelt, verschriftlicht und bekannt sind, überhaupt „richtig“ versteht, weil es Jesus die Rolle nicht zuerkennt, die die Erfinder des Christentums, allen voran Paulus, ihm zuschreiben. Es geht um die Durchsetzung der christlichen Religion gegen das Judentum als Hidden Agenda.
Der gläubige Mensch begibt sich in diesem Verständnis in die Hand des Textes und dieser legt sich dann quasi – da vom Heiligen Geist in Eindeutigkeit und Klarheit geschrieben und geleitet – eindeutig aus, im Ergriffenwerden vom Text, eine hermeneutische Annahme, die auf Platon zurückgeht. Der gläubige Textausleger wird zu einem vom Heiligen Geist entmündigten Textausleger, zugespitzt gesagt, zu seiner Marionette. Die Trinität zwischen Vater, Sohn und Heiliger Geist wird als Tatsache unterstellt, obwohl dieses theologische Konstrukt nicht in der Bibel zu finden ist.
Die Schrift wird in dieser Sichtweise zur „Heiligen“ Schrift, von Gott selbst, über den Heiligen Geist, verfasst. Gottes Hand hat sie selbst geschrieben. Von dieser Annahme gingen auch schon die frühen Kirchenväter, wie Origines und Augustinus aus, wohl aber nicht die Verfasser der Texte selbst. Mehr als nur ein Schönheitsfehler. Die Schriften, mittlerweile wie selbstverständlich als „heilig“ bezeichnet, transportieren direkt die Botschaft Gottes an die Menschen zu deren moralischer Erneuerung. Die Buchstaben in diesen Texten werden als direktes Abbild Gottes gesehen, die einen einzigen, einfachen und festen Sinn haben.
Dass diese Annahmen nicht so einfach zu halten sind, haben schon damalige Gelehrte gesehen und deshalb weitere Hilfsgerüste geschaffen, um das ganze Gedankengebäude, mit der Schrift als theologisch kreierten alleinigen Fetisch im Mittelpunkt, nicht gleich zusammenstürzen zu lassen. Was, wenn der Interpret doch irrt, obwohl das von der Grundannahme her theoretisch nicht vorkommen kann? Die Realität hat schon damals diesem theoretischen Konstrukt nicht entsprochen. So ganz traute man den Bibellesern dann doch nicht über den Weg. Wie der – nicht gewollten – „Willkür“ in der Auslegung entgegenwirken? Mit neuen Annahmen und Konstrukten:
Philipp Melanchthon entwickelte die „Scopus“ Theorie, wonach „die“ Heilige Schrift einen einzigen, einfachen und festen Sinn habe, der sich im fortlaufenden Kontext der Aussage und mit den „Umständen der Angelegenheit“ ergebe. Die Vielfalt der Texte wird theoretisch-methodisch auf „die Hauptintention“ reduziert und unter die weitere Annahme gestellt, dass sich so ein einziger fester Sinn finden lasse. Es wird eine „Hauptintention“ suggeriert, völlig außer Acht lassend, dass es diese „Hauptintention“ bei der Vielzahl der Textschreiber über Jahrtausende schon theoretisch gar nicht geben kann, es sei denn – ja, es sei denn nicht die Schreiber haben die Texte geschrieben, sondern der Heilige Geist selbst.
Das Bindeglied zwischen Ausleger und Text seien, so Melanchthon, die sog. „locci communes“, allgemeingültige Lehren über die Hauptanliegen der Menschen, wie etwa Tugend, Sünde und Gnade. Damit ist inhaltlich und ethisch die Richtung schon festgezurrt: es geht um Tugend, Sünde und Gnade. Das kann man so sehen, muss man aber nicht. Diese Setzung führt zu einer weiteren Entmündigung des Lesers der Heiligen Schrift: Der Leser kann bei der Auffindung der „locci communes“ nicht etwa, wie bei jeder anderen Wissenschaft, auf sein ursprüngliches Wissen zurückgreifen, sondern muss sie sich von der – dogmatisch verordneten – „Autorität der Schrift“ diktieren lassen.
Doch nicht genug, der Schriftleser wird noch weiter an die Kandare genommen. Matthias Flacius Illycrius entwickelte, um ja keine anderen locci communes als die vom Autor identifizierten, aufkommen zu lassen, ein Wörterbuch der Heiligen Schrift. Dem reformatorischen Gedanken der Einheitlichkeit der Schrift und ihrer normativen Selbständigkeit wurde ein Lehrgebäude der Bibelexegese zur Seite gestellt. Die Stellung der Bibel wurde theoretisch-methodisch zu einem normativen Bollwerk ausgebaut, mit dogmatischen Vorgaben, wie sie und die moralische Botschaft dahinter zu verstehen sei. Das Luther-Lied, eine feste Burg ist unser Gott, kommt nicht von ungefähr. Luther verschanzt sich hinter den Buchstaben der Bibel wie in einer Wagenburg.
Die Texte der Bibel und ihre Schreiber derart zu erhöhen, sie quasi als gottgleiche zweite Schöpfer darzustellen, ihre Einheitlichkeit, Selbstverständlichkeit, Klarheit und Eindeutigkeit zu unterstellen, war ein Rückschritt in der bereits erreichten Ausdifferenzierung des Denkens und der hierfür erarbeiteten Methoden. Frühe Philosophen wie etwa Platon, Origines oder Augustinus, haben deutlich differenzierter gedacht, dem Textverständnis mehr Raum zur Entwicklung gegeben, und waren damit den heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen wesentlich näher, als der Rigorismus, die Engstirnigkeit und Begrenztheit des lutherischen Ansatzes der Bibelexegese. Aber gerade das Enge muss vor dem Weiten verteidigt werden, will es Bestand haben. Die Lutheraner haben deshalb selbst wiederum ein Methodengerüst aufgebaut, was sie bei der Konkurrenz jedoch, den Scholastikern, heftig abgelehnt haben. Es ist eben in der Beurteilung ein Unterschied, ob man etwas selbst tut oder die anderen.
Was hat Luther, der kein Dummkopf war, dazu gebracht, seine neue Kirche in einer Weise aufzustellen, an der sie heute noch krankt?
Die Hidden Agenda war: Kirchenpolitik. Augustinus hatte die Auslegungshoheit im Zweifelsfall dem Papst zugesprochen. Luther lehnte das Papsttum radikal ab. Also musste eine andere Lösung her, eben die dann postulierte Auslegung der Heiligen Schrift durch sich selbst. Anstelle des Papstes, wurde ein anderes menschliches Machwerk, die von Menschen zur Bibel zusammengestellten verschiedenen Schriften und deren Schreiber – unangemessen – überhöht.
Luther bekämpfte die Scholastiker, die eine – viel differenziertere – Methodik der vierfachen Auslegung der Bibel erarbeitet hatten, weil er das damalige kirchliche Lehramt und deren Macht ablehnte. Sein Gegenentwurf war die Volksbibel. Jeder sollte selbst die Bibel lesen können. Da er seine Kundschaft in der weitestgehend ungebildeten Masse sah, konnte ein auf philosophischen Feinheiten basierendes Auslegungsmodell – „willkürliche“ Auslegung lehnte er ab – nicht die Methodik seiner Wahl sein. Ein solches Szenarium wäre nicht mehr – von den kirchlichen Dogmatikern – zu beherrschen. Das gilt im Übrigen bis heute. Deshalb beschränkte er seine Lehre auf die aller äußerste Erkenntnisschicht – den Buchstaben der Heiligen Schrift -, unterfüttert mit einer entsprechenden restriktiven, die Auslegung begrenzenden Dogmatik.
Indem kurzerhand die Einheitlichkeit der Texte – trotz der historischen Vielfalt – proklamiert wurde, reduzierte sich – vordergründig – die Komplexität und die Möglichkeiten der Auslegung drastisch. Der interpretatorische Bewegungsspielraum des Bibellesers wurde streng reglementiert. Wer nicht spurt, den Bibeltext und deren Konsistenz auch nur in Frage stellt, im Rahmen der vorgegebenen Lehre versteht sich, bekommt als Etikett ungläubig und vom Heiligen Geist, dem Textschreiber, nicht geleitet. Eine ziemlich trübe Aussicht für alle Kritiker oder auch, wenn man es so sehen will, massive Einschüchterungsversuche der Abweichler. Auch das ein Gebaren, das sich bis heute in der evangelisch-lutherischen Kirche gehalten hat.
Jedoch, lieber Luther, für dich war eine Schlange eben auch keine Schlange, sondern ein Bild für den Satan, entgegen des Wortsinns. Die Theorie muss sich an der Praxis beweisen. Tut sie das nicht, taugt sie nicht zur Erklärung auch nur eines Teilausschnittes des irdischen Seins, nicht zu reden vom göttlichen Sein. Hat Jesus wirklich Tote aufgeweckt oder war das nicht doch bildlich gemeint?
Wieso in deiner Bibelübersetzung (siehe die Beispiele oben), die ich im Übrigen sehr schätze, der äußere Mensch im Vordergrund steht, wird verständlich vor dem Hintergrund der Lehre von deinem Primat des äußeren Wortes. Das verstehe ich nun auch theoretisch. Jedoch sind die Widersprüche, auch im Buchstabensinn, mittlerweile von Legionen – auch theologisch geschulter – Wissenschaftlern mit modernsten Methoden untersucht und deshalb höchst in Frage gestellt.
Vor dem Hintergrund gewinnt auch die Hidden Agenda der evangelisch-lutherischen Kirche deutlichere Konturen: Wenn man die nicht mehr haltbaren Basisannahmen zur öffentlichen Debatte stellt, bleibt nicht mehr viel übrig. Wenn man das theoretische Fundament weghaut, die Annahme der Gottgegebenheit „der“ Schrift und deren Selbstinterpretation, fällt das kirchliche Gebäude in sich zusammen und die Autoritätslücke im Lehrgebäude der evangelischen Theologie tritt zutage. Wenn nicht durch die Schrift, wie äußerst sich Gott dann? Es bleibt spannend.
Mit wahrlich reformatorischen Grüßen, lieber Luther, am Vorabend des Reformationstages 2015,
Herzliche Grüße
Deborrah
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