Lieber Luther

Lieber Luther

Sonntag, 30. August 2015

Fremdenhass und Nächstenliebe

Lieber Luther,

fast jeder kennt die Geschichte, um die es im heutigen Predigttext (Lk 10, 25-37) geht: Die Geschichte vom Barmherzigen Samariter. Es geht um Menschen, die die Straßenseite wechseln, anstatt dem Bedürftigen zu helfen, und um andere Menschen, die ihren geschäftigen Alltag zurückstellen, einen Umweg machen, um zu helfen, Geld in die Hand nehmen. Die Geschichte ist brandaktuell, angesichts brennender Asylbewerberheime, toter Menschen in Transportern und untergegangener Seelenverkäufer im Mittelmeer. Welche Rolle spielen wir? Ja, du! Jeder einzelne ist gefragt.

Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.
Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme. Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!

Was ist bei dieser Geschichte eigentlich das Thema? Der Eingangsdisput zwischen Jesus und dem Schriftgelehrten dreht sich um eine zentrale Frage des Glaubens: Was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe? Es geht um das Leben eines jeden, um das Leben, auch über den physischen Tod hinaus. Ewigkeit ist eine Kategorie, die sperrig ist. Was ist Ewigkeit, was bedeutet sie für uns? Hat sie überhaupt eine Bedeutung? Kann ich etwas dazu tun? Oder bin ich nur ein Sandkorn, das in Gottes Wind treibt, losgelöst von jeglichem Können und Tun auf Gottes Ewigkeit hin?

Was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe? Jesus antwortet dem Schriftgelehrten mit einer Gegenfrage: Was steht im Gesetz? Um gleich hinterherzuschieben: Wie liest du? Wie erfasse ich Gottes Wort, wie nehme ich auf, was geschrieben steht? Was lese ich? Was verstehe ich? Welche Schlussfolgerungen ziehe ich daraus?

Der Schriftgelehrte antwortet prompt:

Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und ganzer Seele, mit allen Kräften und mit ganzem Gemüt.

Dieser Satz steht schon bei Mose und an vielen anderen Stellen des Alten Testaments (z.B. 5.Mose 6,5; 2.Chr 15, 12). Du hast wohlgeredet, sagt Jesus. Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und von ganzer Seele, mit allen Kräften, die du hast. Diene zuallererst Gott.

Aber, dem Schriftgelehrten geht es nicht darum, Gott zu dienen, sondern Jesus herauszufordern, ihm etwas Falsches zu entlocken, es geht ihm um die Theorie, darum, Jesus – den ungebildeten Mann vom Land – bloßzustellen, um sich, den theologisch Ausgebildeten, über Jesus zu stellen. Es geht ihm um Rechthaberei. Und so fragt er Jesus, wer ist mein Nächster? Er fragt nicht, was ist Nächstliebe? Er fragt nicht, was kann ich tun? Er lenkt von sich selbst ab auf den Nächsten. Das ist auch nicht weiter verwunderlich.

Worin das Gebot der Nächstenliebe besteht, ist in 3.Mose 19 ausführlichst beschrieben. Wer den Kanon in 3.Mose 19 liest, ihn in das Heute transformiert, begreift: So heiligen können wir unser tägliches Leben gar nicht, wie dort beschrieben ist. Das überfordert mich, dich, viele von uns. Da steht etwa in 3.Mose 19, 33:

Wenn ein Fremdling bei dir in eurem Land wohnen wird, den sollt ihr nicht schinden. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und sollst ihn lieben wie dich selbst. Ich bin der HERR euer Gott.

Zulassen, dass Flüchtlingsunterkünfte angezündet werden, dass Menschen elendig zugrunde gehen an anderen Menschen, zuzusehen, nichts zu tun, den Mund zu halten, wegzusehen, ist keine Nächstenliebe, da spielt ihr euch als Herren auf, nicht als Brüder. Ziemlich viele unter uns, auch diejenigen, die sich Christen und gläubig nennen, dürfen sich hier angesprochen fühlen. Wer den Mund hält und sich nicht auflehnt gegen den Fremdenhass, wechselt die Straßenseite, wie der Priester und der Levit in der Geschichte. Er tut so, als ob ihn das Ganze nichts anginge.

Was ist der Unterschied zwischen Priester und Samariter? Dem Samariter, dem scheinbar Ungläubigen, drehen sich beim Anblick des Menschen im Elend die Eingeweide um, so bewegt ihn der Anblick in Herz und Seele. Er ist in Herz und Seele ganz Mitleid und voller Erbarmen für diesen verwundeten Menschen. Er kann gar nicht anders als diesem Menschen zur Hilfe eilen. Priester und Levit sind dagegen innerlich unbeteiligt. Es drängt sie nicht, dem bedrängten Menschen zu helfen.

Im Samariter ist Jesus beschrieben: Und da er das Volk sah, jammerte es ihn (z.B. Mt 9, 36; 14,14). Als Jesus die Trauer der Menschen um Lazarus sah, drehte es ihm den Magen um. Jesus hat Mitleid mit dem Menschen im Leid, er leidet mit, er salbt den Verletzten und verbindet seine Wunden.

Unwillkürlich muss man an Psalm 23 denken: Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich mich nicht, den du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich; du bereitest mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde, du salbst mein Haupt mit Öl und schenkst mir voll ein. Samariter sein, heißt Hirte sein.

Der Samariter sieht den hilflosen Menschen, er sieht ihn als Mensch und Bruder, er lässt sich von der Hilflosigkeit des Hilfsbedürftigen berühren, ändert bei diesem Anblick seinen Tagesplan und seine Prioritäten: Anstatt um seinen Job, kümmert er sich um den Hilfsbedürftigen. Es gibt für ihn in diesem Augenblick nichts Wichtigeres mehr als diesem Menschen in Not zu helfen.

Jesus sagt, lieber Luther, so gehe hin und handle ebenso! Es ist die innere Einstellung, auf die es ankommt, ob Herz und Seele von Gott ergriffen sind, durch Herz und Seele Gottes Barmherzigkeit durchscheint. Das ist der Unterschied zwischen Priester/Levit und Samariter. Wenn das der Fall ist, kann man an einem Menschen im Elend nicht einfach vorbeigehen, wegsehen, die Straßenseite wechseln, den Mund halten, nichts tun, zusehen, wie er bedrängt und beschimpft, bedroht, eingeschüchtert, seine Unterkunft angezündet wird. Wenn wir unbeteiligt zusehen, nicht handeln, die Hände in den Schoß legen, scheint Gottes Barmherzigkeit nicht aus unseren Herzen und Seelen, sondern sie klingt nur aus unserem Mund, hohl wie beim Schriftgelehrten.

Jesus will mit der Geschichte sagen: Öffnet eure Herzen und Seelen. Gott zu lieben von ganzem Herzen und ganzer Seele heißt entsprechend zu handeln und Gott nicht nur im Mund zu führen. Du willst das ewige Leben erben? So gehe hin und handle ebenso! Amen.

Herzliche Grüße
Deborrah

Sonntag, 23. August 2015

Hephatha - Tu dich auf

Lieber Luther,

das ist so die Frage: Sind wir in unserer Beziehung zu Gott aktiv gefragt oder reicht es, wenn wir uns passiv von ihm beglücken lassen? Tu dich auf oder werde geöffnet. Das ist die Frage, die der heutige Predigttext (Mk7, 31-37) aufwirft:

Und da er wieder ausging aus der Gegend von Tyrus und Sidon, kam er an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der zehn Städte. Und sie brachten zu ihm einen Tauben, der stumm war, und sie baten ihn, dass er die Hand auf ihn legte. Und er nahm ihn von dem Volk besonders und legte ihm die Finger in die Ohren und spützte und rührte seine Zunge und sah auf gen Himmel, seufzte und sprach zu ihm: Hephatha! das ist: Tu dich auf! Und alsbald taten sich seine Ohren auf, und das Band seiner Zunge war los, und er redete recht. Und er verbot ihnen, sie sollten’s niemand sagen. Je mehr er aber verbot, je mehr sie es ausbreiteten. Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.

Die Übersetzungen sind sich nicht einig: Werde geöffnet oder öffne dich?  Wie so oft ist es ein sowohl als auch – und doch alles auch ganz anders.

Jesus seufzt. Warum seufzt er? Er ist schon länger unterwegs, von hier nach dort, um den Menschen Gottes Wort zu vermitteln, überhaupt die Kenntnis von Gott. Es gibt und gab auch schon zu der Zeit die verschiedensten Gottes- und Götterlehren. Wie den Menschen vermitteln, dass der Gott, von dem er erzählt, der EINE Gott ist? Dass seine Lehre die Lehre ist, der sie nachfolgen sollten? Für Jesus stellte sich die Frage genauso, wie sie sich denjenigen heute stellt, die Gottes Wort predigen.

Zunächst ist das eine Frage des Wissens. Wer noch nie etwas von dem EINEN Gott gehört hat, wie soll er ihm nachfolgen, wie seine Stimme hören, wie von ihm predigen, wie von ihm zeugen? Nur wenn man von ihm erzählt, öffnet man die Ohren für diesen EINEN Gott, ermuntert man, es mit ihm zu versuchen, macht man neugierig auf ihn. Wenn man ihn erfahren hat, löst das die Zunge, hat man das Bedürfnis, von seinen Erfahrungen mit Gott zu erzählen, sie weiterzutragen, andere zu ermuntern, sich für ihn zu öffnen. Zu sagen: Er ist mein Heil, er ist meine Heilung, er ist der Arzt, den ich brauche.

Jesus seufzt, weil die Menschen nur auf seine Zeichen schauen. Er seufzt, weil die Menschen ihren Blick auf die Zeichen richten, aber lauter Analphabeten sind, die sie nicht lesen können. Die Botschaft ist:

Richtet selbst eure Augen gen Himmel, wendet euch Gott zu, bittet ihn: Hephatha! Tu dich auf Gott, tu den Himmel auf und lass mich deine heilende Hand spüren, hilf mir, mich zu öffnen, dass meine Augen, meine Ohren, all meine Sinne dich erkennen und erfahren.

Indem Jesus sein Augenmerk weg von sich selbst, von der Erwartungshaltung, die auf ihn gerichtet ist, hin zu Gott richtet, ihn um Hilfe bittet: Tu dich auf! wird ihm Gottes Hilfe zuteil, so dass er heilend wirken kann. Jesus lebt vor, wie es geht. Er seufzt, weil wir nur auf das Ergebnis stieren, seine Zeichen erwarten, sie bis heute diskutieren: Ist das möglich oder sind das alles Döntjes, die da erzählt werden? Jesus seufzt, weil wir bis heute nicht begriffen haben, um was es in seiner Botschaft geht, weil wir passiv sind, eine Erwartungshaltung haben, die nicht auf Gott, sondern auf uns selbst, auf unser maximales Wohlergehen gerichtet ist. Wir maximieren unsere Erwartungshaltung auf Gott hin, und Minimieren sie, was uns selbst angeht. Was erwarten wir eigentlich von ihm? Worin besteht unsere Heilserwartung? Dass er der Retter, der Deus ex Machina, in all unseren irdischen Belangen ist? Auf unsere  Wohlfahrt gerichtet? Dass er alles heilt, was Mensch, wo immer er lebt, welchem Glauben oder Nichtglauben er auch anhängt, verbockt? Gott ist kein Zauberer, der wohlfeil herbeizaubert, was wir gern hätten.

Jesus seufzt, weil wir es ihm nicht gleichtun, weil wir nicht das Wie von ihm lernen: das Wie des Glaubens, das Wie des Vertrauens, das Wie des Betens, das Wie des sich Zurückstellens, das Wie des Lebens in Gottes Gegenwart, das Wie des kompromisslosen sich in seinen Dienst stellens.

Jesus geht es nicht um die Zeichen, nicht um das physische Heilen. Jesus geht es um das seelische Heilen, das Heil-Werden im Glauben und Vertrauen an Gott. Wenn es in der Geschichte heißt: Seine Ohren wurden aufgetan und sein Zunge gelöst, meint das: Der Mensch vernimmt plötzlich Gottes Wort, er hat es vorher nicht gehört. Wenn es heißt, seine Zunge wurde gelöst und er redete recht, dann meint das, er hat Gottes Gegenwart erfahren und erzählt es jedem, der es hören will. Wer Gottes Gegenwart erfährt, seine heilende Wirkung, redet richtig von und vor Gott. Er kann gar nicht anders, da Gott in ihm wirkt.

Und, lieber Luther, Jesus war ein guter Psychologe: Je mehr er den Menschen verbot, vom offensichtlich heilenden Wirken Gottes zu erzählen, desto mehr machten sie es „über alle Maßen“ bekannt. Nichts verbreitet sich im Alltag schneller als das, was geheim bleiben soll. Klatsch und Tratsch sind bis heute die sichersten Kommunikationsmittel, wenn man etwas an den Menschen bringen will. Das, was daran zugedichtet ist, muss man wieder abziehen, aber der Kern der Botschaft bleibt:

Gottes heilende Wirkung kann erfahren werden. Eure Öffnung ist gefragt, damit Gott sich euch eröffnet. Richtet euren Blick auf Gott und bittet ihn: Hephatha! Tu mir die Augen und Ohren auf, öffne meine Sinne und mein Herz für deine heilende Wirkung, damit auch ich heilend wirken kann.

Amen.

Herzliche Grüße
Deborrah

Sonntag, 16. August 2015

Zweiklassengesellschaft

Lieber Luther,
Der Gedanke, den Jesus im heutigen Predigttext (Lk 18, 9-14) an den Mann / die Frau bringen will, ist nicht neu.
Er sagte aber zu etlichen, die sich selbst vermaßen, daß sie fromm wären, und verachteten die andern, ein solch Gleichnis: Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, zu beten, einer ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst also: Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich habe. Und der Zöllner stand von ferne, wollte auch seine Augen nicht aufheben gen Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging hinab gerechtfertigt in sein Haus vor jenem. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.
Der Gedanke, dass es bei Gott keine Zwei- oder Mehrklassengesellschaft gibt, dass vor Gott alle gleich sind und die gleichen Rahmenbedingungen haben, ist ein Gedanke, der mit dem EINEN Gott verknüpft ist, seit es den Gedanken an ihn gibt.
Ein gesellschaftliches Oben und Unten gibt es, seit Menschen sich in größeren sozialen Verbänden organisieren. Die Evangelien sind im Kern eine Kampfansage gegen soziale Ungerechtigkeit, gegen die Unterdrückung der Kranken, Schwachen und Armen durch die Mächtigen und Wohlhabenden:
  • Gott stößt die Gewaltigen vom Stuhl und erhebt die Niedrigen (Lk 1, 52)
  • Wer sich selbst erhöht, der soll erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der soll erhöht werden (Lk 14, 11)
  • Der Größte unter euch soll euer Diener sein (Mt 23, 11)

Die Botschaft ist: Vor Gott gibt es kein Oben und Unten, keine Zweiklassengesellschaft. Jesus ist im Alten Testament verankert. Auch dort findet sich dieser Gedanke. Fast wörtlich wie bei Lukas steht es schon bei den Propheten des Alten Testaments (z.B. Dan 4, 17; Hk 21, 26):
  • Denn die sich demütigen, die erhöht er, und wer seine Augen niederschlägt, der wird genesen (Hiob 22, 29)
Dieses Wort greift Jesus auf. Es ist das Hauptthema seiner Lehre. Er hat an eigenem Leib erfahren, was es heißt, zu den Niedrigen, zu den Armen, zu den gesellschaftlich Verachteten zu zählen. Er war es. Die Arrivierten, die Phärisäer und Schriftgelehrten, machten bei den Herrschenden Stimmung gegen ihn, hoben Steine auf, bereit, sie auf ihn zu werfen. Lasst euch nicht beirren, ist Jesu Botschaft. Gott bemisst selbst, er überlässt das nicht den weltlich Herrschenden. Sein Maß ist ein anderes als das Ihrige.
Der Pharisäer im Gleichnis ist selbstgerecht. Er denkt, er sei fromm: Er hält die von Menschen gesetzten Gesetze, er achtet die Dogmen, wie das Fasten, er entrichtet seine Steuern, weil es das Recht so will. Er setzt sich selbst zum Maßstab für andere, setzt sich selbst über die anderen, zeigt mit dem Finger auf all diejenigen, die nicht so vermeintlich rechtschaffen sind wie er selbst: Danke Gott, dass ich nicht so bin wie diese Diebe, Bedrücker und Gottlosen. Danke Gott, dass ich so rechtschaffen bin. Das ist Selbsterhöhung. Jesus sagt es klar: Deine Selbstgerechtigkeit ist nicht die Gerechtigkeit, die vor Gott zählt. Vor Gott gelten Gottes Maßstäbe, nicht deine eigenen. Gott allein kennt diesen Maßstab. Er ist zu groß für Menschen, um ihn zu fassen.
Was betet dagegen der so vor Gott abgekanzelte Steuereintreiber? Er weiß, dass er einen Beruf hat, der nicht angesehen ist, dass er andere bedrückt, vielleicht sogar die Existenzgrundlage nimmt. Er erfüllt weltliche Gesetze und diese sind nicht immer gerecht, sogar manchmal höchst ungerecht, sind Ursache für die ungerechte Zweiklassengesellschaft. Aber es ist sein Beruf, er muss leben und so verdient er seinen Lebensunterhalt mit diesem Beruf, den alle verachten. Er übt einen Beruf aus, der ihn selbst auf die unterste soziale Leiter stellt. Wo aber sind die Alternativen? Er und seine Familie brauchen ein Dach über dem Kopf und jeden Tag etwas zu essen.
Der Steuereintreiber ist – im Gegensatz zum Pharisäer – selbstkritisch. Es ist ihm bewusst, dass er ein fehlbarer Mensch ist, der in dem, was er tut, nicht gerecht ist. Die Bedrückung, die er selbst ausübt, bedrückt ihn selbst und so bringt er es vor Gott. Er schlägt nicht gegen die Brust der anderen, wie der Pharisäer, er schlägt an seine eigene Brust, senkt seinen Blick angesichts seines Teiles der Schuld als Schuldeneintreiber: Gott, vergib mir, sei mir Sünder gnädig. Er ist nicht selbstgewiss, sondern demütig.
Jesu Botschaft ist: Das zählt. Dass du dich vor Gott aus ehrlichem Herzen bekennst. Dass du dich nicht selbst auf einen selbstgebauten Sockel stellst, für Gott entscheidest, was sein Recht ist, sondern es Gott überlässt. Nicht wir sind das Mass der Dinge, sondern Gott.
Lieber Luther, vor Gott gibt es keine Zweiklassengesellschaft. Was bei uns unten ist, kann bei Gott oben sein, wer bei uns Prügelknabe ist, kann bei Gott Musterknabe sein, was bei uns als schöner Schein daherkommt, kann vor Gott nicht bestehen. Gott vermisst die Welt und ihre Menschen nach seinem Maßstab, nicht nach unserem. Das gilt auch für diejenigen, die meinen das Auslegungsmonopol für die Schrift zu haben.
Jesu Botschaft ist eine Befreiungsbotschaft. Der Glaube an diesen EINEN Gott macht frei von menschlichen Bedrückungen und Zwängen. Er ermöglicht es, in Frieden mit einem selbst zu leben, unabhängig davon ob man in dieser Welt in ihrem Blick im Oben oder Unten, in den Niederungen oder in den Höhen angesiedelt ist. In der wahren Höhe gibt es nur Gott und der kennt keine Zweiklassengesellschaft. Amen.

Herzliche Grüße
Deborrah

Samstag, 8. August 2015

Unfrieden - Jesus weint

Lieber Luther,
der Predigttext für diesen Sonntag (Lk 19, 41-48) macht mich betroffen und ich weiß nicht wirklich wieso. Weil Jesus um uns weint? Weil er mit der Bitte angegangen wird, seine Jünger zu strafen? Zu strafen, weil sie ihm bei seinem Einzug in Jerusalem zujubelten? Zu strafen, weil sie sagen: Gelobt sei, der da kommt In Gottes Namen. Friede sei im Himmel und auf Erden!
Jesus weint um die Fragesteller. Um alle, die nicht im Namen des Herrn zu ihm kommen. Um alle, die nicht erkennen, was den Frieden bringt. Um alle, die nicht erkennen, dass Frieden nicht kommt, solange der Mensch sich auf andere Menschen verlässt. Er weint um diejenigen, die den Frieden unter sich suchen, der Utopie nachrennen, es könne jemals Friede werden unter Menschen ohne Gott, ohne Gottes Frieden.  Er weint um die, die nicht erkennen, dass er die Botschaft ist, die Verkörperung dessen, was Frieden bringt. Dass er zu uns kommt, wir selbst, jeder von uns, die Wohnstatt für seinen Frieden IST, er sich uns nähern will, uns im Blick hat, bei uns ist.
Statt den Blick nauf unser Inneres und Äußeres zu richten, richten wir ihn auf den anderen, zeigen mit dem Finger auf ihn: Strafe ihn, er folgt nicht dem, was ich sage, nicht unserer Botschaft, nicht unserer Lehre, nicht unserer Religion, nicht unserer Theologie. Er ist der Grund für den Unfrieden, nicht ich selbst.
Wenn du doch an diesem Tag, zu dieser DEINER Zeit, heute, jetzt, erkannt hättest, was dir zum Frieden dient! entgegnet Jesus den sich beklagenden Pharisäern und Schriftgelehrten. Was zum Frieden dient, ist nicht in der Vergangenheit zu suchen und nicht in der Zukunft,  sondern im Jetzt, zu DEINER Zeit, zu DIESER Zeit. Jesus bringt jedem einzelnen die Möglichkeit des Friedens. Sie will nur ergriffen sein. Wenn du die Augen nicht aufmachst, nicht siehst, worin die Botschaft vom Frieden besteht, sie bei anderen suchst, anstatt bei dir selbst, ist es eine verpasste Chance auf Frieden. Für deinen Frieden bist du alleine verantwortlich, er ist in dir zu suchen, weil Gottes Frieden in dir wohnt, wenn du ihn durchdringen lässt.
Denn: Es werden Feinde, Bedränger, Anfechter, Vertreiber kommen oder sind schon da, die dich umringen, dein Sein umfassen, dich bedrohen, dich zu Fall bringen. Selig ist der Mensch, der weiß an welcher Stelle die Räuber eindringen werden, damit er vorsorgen kann, aufstehen, sich sammeln, sich vorbereiten kann auf den Augenblick, wenn sie vor einem stehen, damit sie keine Chance haben, einen zu überwältigen (NHC II, 2, 103). Wer sich nicht wappnet, ist seinen Bedrängern wehrlos ausgeliefert. Wenn ihr mich, meine Botschaft, mein Wort hört, ihm folgt, seid ihr gewappnet, sagt Jesus. Mehr braucht ihr nicht. Warum seht ihr das nicht? Warum setzt ihr euch freiwillig schutzlos euren Feinden aus? Ich würde euch so gerne schützend umarmen.
Jesus weint um uns, weil wir unserer Blindheit mehr vertrauen als seinem Wort. Seine Liebe, seine Zuwendung nicht annehmen. Er weint, weil unsere Herzen erblindet sind.  Öffnet Augen und Herz sagt er: Ich stehe in der Mitte der Welt, erscheine euch in euch. Ihr seid jedoch alle berauscht. Von euch selbst, von den vermeintlichen Reichtümern der Welt, lasst euch kaufen und verführen. Niemand dürstet nach mir. Ich bin klares Wasser, das klare Wasser, das eure Augen zu klären vermag, wenn ihr mich nur an euch heranlassen würdet, wenn ihr zufrieden wärt mit meinem Wasser. Ihr wollt mehr und seid mit weniger zufrieden.
Jesus sagt: Und meine Seele empfindet Schmerz über die Kinder der Menschen, weil sie blind sind in ihrem Herzen und nicht sehen; leer kamen sie in die Welt, suchen in der Welt und werden leer wieder aus der Welt gehen. Sie suchen, aber suchen das Falsche,  suchen nicht meinen Frieden, gehen wie berauscht, nicht klarer Sinne, wie nicht zurechnungsfähig durch die Welt. Wenn sie aber ihren Rausch überwunden haben, werden sie umdenken (NHC II, 2, 28).
All der Unfriede geschieht, sagt Jesus, weil ihr die Zeichen, die ich euch gegeben habe, nicht erkennen wollt, weil ihr euer wahres Zuhause nicht erkennen wollt, weil ihr das Wort, das ich zu euch gebracht und ausgelegt habe, nicht hören wollt, weil ihr euer Herz vor mir verschließt, anstatt es mir zu öffnen,  weil ich euch zwar suche, aber ihr vor mir das Weite sucht.
Lieber Luther, Jesus weint. Er weint um uns, um den Frieden in uns, auf den wir freiwillig verzichten. Öffnen wir unsere Herzen, wappnen wir uns mit dem Wort, damit in uns Friede werde. Jeder kann diesen Frieden finden, egal wie friedlos diese Welt ist. Der Friede in Gott ist unabhängig von dieser Welt. Amen.
Herzliche Grüße
Deborrah
PS: NHC; Ursula Ulrike Kaiser/Hans-Gebhard Bethge (Hrsg): Nag Hammadi Deutsch, Studienausgabe. 3.Aufl, 2013. Die Stellen, auf die Bezug genommen sind, stammen aus dem Thomasevangelium.