Lieber Luther

Lieber Luther

Dienstag, 12. Januar 2016

Bibel Zwistigkeiten

Lieber Luther,

wie du sicher bemerkt hast, befasse ich mich verstärkt mit der Weisheitsliteratur der Bibel, mit den Sprüchen und Psalmen. Beides sind Schatztruhen für den Glauben. Die Inhalte können auch heute noch bestehen, sofern man sich nicht von kirchlichen Dogmen in seinem Blickfeld begrenzen lässt. So will ich dieses Jahr schauen, wohin mich diese Weisheitsliteratur führt, das ein oder andere mit dir teilen. Womit ich mich sicher nicht befasse, sind die Predigttexte für dieses Kirchenjahr. Episteln. Jede Woche lese ich und versuche, etwas aus ihnen herauszuziehen, was nicht Dogma ist, aber es gelingt nicht. So lasse ich diese Texte links liegen, ich brauche mich nicht selbstkasteien.

Wofür hat Jesus gestanden? Sicher nicht dafür, was in den paulinischen Briefen steht. Fakt ist, dass die Jesusworte von den kirchlichen Bibelredakteuren entsprechend der Kircheninteressen umformuliert wurden. Nehmen wir dagegen das Thomasevangelium. Es ist ein Schatz, eine Sammlung von Jesusworten, ohne zusammenhängende Handlung. Das Thomasevangelium steht nicht in der Bibel. Es hat die kirchliche Zensur aus naheliegenden Gründen nicht passiert. Hier findet man einen anderen Jesus, als den, der uns kirchlich verkauft wird.

Das Thomasevangelium, so wie es in Nag Hammadi gefunden wurde, ist eine Übersetzung vom Hebräischen ins Griechische. Die Übertragung des Hag Hammadi Textes erfolgte etwa im 2. Jahrhundert n.Chr. Die Originaltexte sind damit spätestens im ersten Jahrhundert nach Christus entstanden und damit sehr zeitnah zu Jesu Leben. Für etwa die Hälfte der Texte gibt es Übereinstimmungen mit den synoptischen Evangelien Matthäus, Markus und Lukas, für die andere Hälfte nicht. Nicht alles, was als Jesusworte im Thomasevangelium überliefert ist, passte zu den kirchlichen Lehren. Deshalb wurde kurzerhand das gesamte Thomasevangelium als häretisch aussortiert.

Gott bewahrt sein Wort. Die gesammelten Jesusworte im Thomasevangelium geben einen Blick auf Jesus, der frei ist von Personenkult. Er zeigt, für was Jesus wirklich stand, sofern man das nach über 2000 Jahren und magerer Quellenlage überhaupt noch sagen kann. Er zeigt einen kämpferischen Jesus, der nicht so pazifistisch war, wie er nachträglich gemacht wurde, was allerdings auch schon in den kanonischen Evangelien nicht ganz weg zu redigieren war. Im Logion 16 von Codex II aus Nag Hammadi (NHC) liest man folgendes:

Jesus spricht: „Vielleicht denken die Menschen, dass ich gekommen bin, Frieden in die Welt zu werfen. Doch sie wissen nicht, dass ich gekommen bin, Zwistigkeiten auf die Erde zu werfen: Feuer, Schwert, Krieg. Es werden nämlich fünf in einem Haus sein: Es werden drei gegen zwei sein und zwei gegen drei, der Vater gegen den Sohn und der Sohn gegen den Vater. Und sie werden dastehen als einzelne.“ (NHC II, 2,16).

Was hat Jesus da vorhergesehen? Wieviel sind in seinem Namen in Kriege gezogen? Heute noch? Wieviel reklamieren ihn für sich, ohne einig zu sein, ja unversöhnlich? Katholische Kirche gegen evangelische Kirche und wiederum in der Lehre unterschiedlich die orthodoxen Kirchen. Nicht zu vergessen die vielen evangelikalen Kirchen oder Freikirchen. Schon nach Jesu Tod fingen die Zwistigkeiten an: Paulus gegen Jakobus, den Jesus nach NHC II, 2,12 zu seinem wahren Nachfolger bestimmt hat (NHC II, 2,12):

Die Jünger sprachen zu Jesus: „Wir wissen, dass du von uns gehen wirst. Wer ist es, der über uns herrschen wird?“ Jesus sprach zu ihnen: „Woher ihr gekommen seid – zu Jakobus dem Gerechten sollt ihr gehen, um dessentwillen der Himmel und die Erde entstanden sind.“

Über den Jakobusbrief in der Überlieferung von Nag Hammadi habe ich schon berichtet. Er eröffnet einen anderen Blick auf das, was Jesus mit „glaubt an mein Kreuz“ gemeint hat. Von Paulus, der Jesus nie getroffen und sich seine Lehre frei zusammengereimt hat, ist im Codex Nag Hammadi mit keiner Silbe die Rede.

Oder hat Jesus mit seinem Wort über die Zwistigkeit, die er bringt, seine kommende Vereinnahmung durch die verschiedensten, nicht miteinander zu vereinbarenden Theologierichtungen gemeint? Die Unterschiede fangen schon mit den verschiedenen Evangelien an, die in ihrer theologischen Richtung bei näherer Betrachtung unvereinbar sind. Das fällt nicht auf, wenn man innerhalb eines Evangeliums liest, oder nur 5 Verse, jedoch wenn man horizontal liest, die verschiedenen Stellen parallel, entdeckt man die Unterschiede. Etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, bei der grundlegenden Auffassung, ob das Reich Gottes mit Jesus bereits gekommen ist oder erst noch kommen wird. Wenn man darauf achtet, entdeckt man im horizontalen Lesen der vergleichbaren Bibelstellen den unterschiedlichen Duktus, der zu völlig anderen Schlussfolgerungen, Botschaften und Konsequenzen für die Leser bzw. Gläubigen führt, nimmt man sie ernst.

Das Markusevangelium, das als ältestes Evangelium angesehen wird, ist z.B. aus apokalyptischer Sicht geschrieben. Die Jesusworte werden hier so formuliert, dass die Botschaft ist: Gottes Reich kommt bald, durch den „Menschensohn“. Jesus, der Menschensohn, wird die Welt und ihre Menschen danach richten, ob sie Jesu Lehre angenommen haben oder nicht. Jesus ist derjenige der das Reich Gottes in das irdische Leben bringt. Nach seinem Tod wird Jesus bald zum Gericht zurückkehren und Gottes Reich bringen (was sich dann nicht erfüllt hat).

Das Matthäusevangelium ist dagegen in jüdischer Tradition verfasst. Matthäus Botschaft ist: Die Prophezeiungen aus der Alten Schrift sind mit Jesus in Erfüllung gegangen. Wer die Gesetze und die Gebote nicht einhält, wird das Heil nicht finden. Gottes Reich ist mit Jesus noch nicht gekommen. Eine diametral entgegengesetzte theologische Position vertritt Paulus: In Paulus Sichtweise braucht man kein Gesetz halten, um das Heil nicht zu verlieren, mit einer Ausnahme: das Gebot „Liebe deinen Nächsten“. Wieso genau das gilt und andere Gebote nicht, die wesentlich öfters in der Bibel erwähnt werden, ist unklar. Aber, an sich ist auch das bei Paulus egal, da der Mensch schon durch den Glauben allein an Jesus Christus gerechtfertigt ist. Bei Matthäus geht dagegen ohne Einhaltung des Gesetzes gar nichts. In der Bergpredigt heißt es:

„Ihr sollt nicht wähnen, dass ich gekommen bin, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn ich sage euch wahrlich: Bis dass Himmel und Erde zergehe, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüttel vom Gesetz, bis dass es alles geschehe. Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute also, der wird der Kleinste hießen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich“ (MT 5, 17-19).

Das nimmt, interessanterweise, der Jakobusbrief wieder auf: Denn so jemand das ganze Gesetz hält und sündigt an einem, der ist’s ganz schuldig (Jk 1,10). Jakobus hat Jesus in einem im Thomasevangelium zitierten Logion wie bereits erwähnt zu seinem Nachfolger erklärt. Jesus war dieser Position gemäß seiner jüdischen Tradition sehr nahe, Paulus sehr ferne.

Der Schreiber des Lukasevangeliums hatte eine noch andere theologische Position: Jesu Tod soll die Menschen dazu bringen ihre Sünden zu bereuen und zu Gott umzukehren. Das Heil erwirkt der Mensch durch Buße, wodurch er Vergebung erlangt. Sünden müssen vergeben werden und dazu ist Umkehr und Buße notwendig. Jesu Tod ist für ihn kein Tod für unsere Sünden. Gleich im Eingangskapitel stellt Lukas seine theologische Position klar.

Die Erkenntnis des Heils besteht, wie im Benedictus festgehalten, „in Vergebung ihrer Sünden durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes“ (Lk 1, 77). Manche übersetzen, dass die Barmherzigkeit unseres Gottes uns „besucht hat“, andere „besuchen wird“. Das ist für einen Gläubigen ein fundmentaler Unterschied. In dem einem Fall hat Gottes Barmherzigkeit uns schon besucht, im anderen Fall wird sie es erst in einer unbestimmten Zukunft tun. Auch in die Übersetzungen spielen die theologischen Positionen hinein. Für Lukas ist Sünde immer mit noch notwendiger Vergebung verknüpft, Jesu Tod erinnert daran, dass die Menschen zu Gott umkehren müssen. Jeder Mensch muss aber für sich Buße tun und Vergebung erlangen.

Eine wesentlich abstraktere Sicht herrscht im Johannesevangelium, das als letztes entstanden ist. Jesus ist hier fleischgewordenes Wort und Jesus wird in seiner Person in den Mittelpunkt gestellt. Der Schreiber legt Jesus eine Vielzahl „Ich bin“ Worte in den Mund. Wer wie er Licht werden will und zum Vater in den Himmel kommen will, glaube an ihn und seine Worte. „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich” (Joh 14, 6). Im Johannesevangelium wird Jesus zum Flaschenhals zur Erreichung des Heils. Es hat eine Sonderstellung, da es eine eigene Theologie vertritt, die nicht Jesu Auffassung war und sein konnte, da Jesus in jüdischer Tradition und Kultur aufwuchs und lehrte, nicht in griechischer.

Und was vertreten die Kirchen heute? Sie nehmen sich verschiedene Teile aus allen Evangelien und der Bibel und bauen sich daraus ihre eigenen Theologien und Dogmen, für sich in Anspruch nehmend, dass allein ihre Variante zum Heil führt. Alle Varianten sind gleich richtig oder falsch.

Jesus spricht: „Vielleicht denken die Menschen, dass ich gekommen bin, Frieden in die Welt zu werfen. Doch sie wissen nicht, dass ich gekommen bin, Zwistigkeiten auf die Erde zu werfen: Feuer, Schwert, Krieg. Es werden nämlich fünf in einem Haus sein: Es werden drei gegen zwei sein und zwei gegen drei, der Vater gegen den Sohn und der Sohn gegen den Vater. Und sie werden dastehen als einzelne.“ (NHC II, 2,16).
Lieber Luther, genauso ist es gekommen und genauso wird es weitergehen.

Weitere Texte aus der Quelle Nag Hammadi: http://deborrahs.com/?s=Nag+Hammadi

Herzliche Grüße
Deborrah

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