Lieber Luther

Lieber Luther

Samstag, 16. Januar 2016

Nichtsoweiter, Ohrenbläser

Lieber Luther,

Die (falschen) Worte des Ohrenbläsers, der Spruch für den gestrigen Tag, ist mir, wie eigentlich immer, gestern im Leben begegnet. Ich habe einen Text gelesen, einen Vorstellungstext und gedacht: Den kennst du doch. Eine Passage ist mir darin damals schon aufgefallen, weil sie offensichtlich geflunkert war, und nun stand sie schon wieder da.

Nachgeschaut, und tatsächlich, ich bin fündig geworden, ein Griff und ich hatte das Heftchen zur Hand. 2008 geschrieben. Der beinah identische Text, Alter, Frau und Ort ausgewechselt, eiliges Leben, und fertig ist die Laube.

Alte vergilbte Tapeten für neue zu verkaufen, in der Hoffnung oder sogar Erwartung, dass es keiner merkt - wer hat schon so ein langes Gedächtnis - mag arbeitsökonomisch sein, ist aber dennoch Unrecht an den Menschen, an die sie gerichtet sind, sie denken und erwarten, das Gesagte komme aus ehrlichem Herzen und entspreche der Wahrheit und es ist doch nichts als Betrug.

Wer die Sprüche in der Bibel liest, liest viel über wahre und falsche Lippen, über Aufrichtigkeit, die von Herzen kommt und Falschheit. Ein ehrliches, reines Herz belügt die Mitmenschen nicht. Vor Gott, das ist die Botschaft, besteht kein falscher Ohrenbläser, dessen Zunge sich windet wie eine falsche Schlange, damit sie verbirgt, was er wirklich denkt. Es ist Respekt- und Lieblosigkeit dem Mitmenschen gegenüber, ihn unehrlich zu behandeln. Ehrlichkeit heißt nicht, der Katze um den Bart zu gehen, sie heißt auch nicht, das falsche oder ehrliche Herz auf der Zunge tragen. In den Sprüchen ist ein differenzierteres Bild zu finden (nur Sprüche 16-19 im folgenden):

Wer Böses für Gutes vergilt,
von dessen Hause wird das Böse
nicht weichen (Sprüche 17,13)

Will heißen, wem Vertrauen, Offenheit, ehrliche Freude und Zutrauen entgegengebracht wird, und er "belohnt" dieses ehrliche Entgegenkommen mit einer aufgewärmten Botschaft, die schon an andere Menschen gerichtet wurden, der vergilt Gutes mit falschen Lippen:

Der Könige Gräuel ist, Gesetzlosigkeit tun;
Denn durch Gerechtigkeit steht ein Thron fest.
Der Könige Wohlgefallen sind gerechte Lippen;
Und wer Aufrichtiges redet, den liebt er (Sprüche 16, 12-13)
Ein Lügner gibt Gehör der Zunge des Verderbens (Sprüche 17,4)
Wer verkehrten Herzens ist,
wird das Gute nicht finden;
und wer sich mit seiner Zunge windet,
wird ins Unglück fallen (Sprüche 17,20)
Der Mund des Toren wird ihm zum Untergang,
und seine Lippen sind der Fallstrick seiner Seele (Sprüche 18,7)
Besser ein Armer, der in seiner Vollkommenheit wandelt,
als wer verkehrter Lippen und dabei ein Tor ist (Sprüche 19,1)
Ein falscher Zeuge wird nicht schuldlos gehalten werden;
Und wer Lügen ausspricht, wird nicht entrinnen (Sprüche 19, 5),
oder umkommen (Sprüche 19, 9)
Alle Brüder des Armen hassen ihn; wieviel mehr entfernen sich von ihm seine Freunde!
Er jagt Worten nach, die nichts sind (Sprüche 19,7)
Auch wer sich lässig zeigt in seiner Arbeit,
ist ein Bruder des Verderbers (Sprüche 18,8)
Faulheit versenkt in tiefen Schlaf, und eine lässige Seele wird verhungern (Sprüche 19, 15)
Höre auf Rat und nimm Unterweisung an, damit du weise seiest in der Zukunft. (Sprüche 19, 20)
Tod und Leben sind in der Gewalt der Zunge,
und wer sie liebt, wird ihre Frucht essen (Spr 18,21)

Hohe Zeit aufzuwachen!

Ist es verwunderlich, dass so sehr auf ehrliches Reden Wert gelegt wird, bei einem Gott, der sich auf das Wort gründet, das gesprochene, erzählte, verkündete, geschriebene Wort? Ein Gott, dessen Kommunikationsmittel menschliche Sprache ist, muss Wert auf wahres Wort legen, was nicht heißt, dass es immer die gleichen Worte sind in Jahrtausenden. Es geht um das Wort, das aus dem Wort in uns spricht und verstanden wird.

Das, was einem in der Bibel heute begegnet, passt heute ins Leben. Das macht viele, nicht alle, Bibeltexte unabhängig von ihrer Entstehungsgeschichte und auch von Religion. Die Bibel ist ein Weisheitsbuch vom Glauben. Die Weisheit Salomons ist nicht umsonst sprichwörtlich. Sie verweist mitten ins Leben und mitten in unser Scheitern. Auch heute noch.

Und noch ein weiser Spruch ist mir heute begegnet in einem Buch, das die „Neugeburt“ des Heiligen Benedikts beschreibt:

„Kehrtwendungen um 180° sind oft nur eine Illusion, denn unsere Gefühle und unser Verhalten müssen damit Schritt halten. Benedikts Verhalten gleicht einer Flucht. Wovor? Vor den Menschen, aber auch vor der eigenen Geschichte“*

Ein Übergehen und Weiterso bringt einem immer weiter vom rechten Weg ab.

Deshalb: Nichtweiterso!

Ein Verweis dringt bei einem Verständigen tiefer ein, als hundert Schläge bei einem Toren (Spr 17,10).

Herzliche Grüße
Deborrah

*) in: Gabriele Ziegler: Die Wüstenmütter. Weise Frauen des frühen Christentums. Camino. 2015

Dienstag, 12. Januar 2016

Bibel Zwistigkeiten

Lieber Luther,

wie du sicher bemerkt hast, befasse ich mich verstärkt mit der Weisheitsliteratur der Bibel, mit den Sprüchen und Psalmen. Beides sind Schatztruhen für den Glauben. Die Inhalte können auch heute noch bestehen, sofern man sich nicht von kirchlichen Dogmen in seinem Blickfeld begrenzen lässt. So will ich dieses Jahr schauen, wohin mich diese Weisheitsliteratur führt, das ein oder andere mit dir teilen. Womit ich mich sicher nicht befasse, sind die Predigttexte für dieses Kirchenjahr. Episteln. Jede Woche lese ich und versuche, etwas aus ihnen herauszuziehen, was nicht Dogma ist, aber es gelingt nicht. So lasse ich diese Texte links liegen, ich brauche mich nicht selbstkasteien.

Wofür hat Jesus gestanden? Sicher nicht dafür, was in den paulinischen Briefen steht. Fakt ist, dass die Jesusworte von den kirchlichen Bibelredakteuren entsprechend der Kircheninteressen umformuliert wurden. Nehmen wir dagegen das Thomasevangelium. Es ist ein Schatz, eine Sammlung von Jesusworten, ohne zusammenhängende Handlung. Das Thomasevangelium steht nicht in der Bibel. Es hat die kirchliche Zensur aus naheliegenden Gründen nicht passiert. Hier findet man einen anderen Jesus, als den, der uns kirchlich verkauft wird.

Das Thomasevangelium, so wie es in Nag Hammadi gefunden wurde, ist eine Übersetzung vom Hebräischen ins Griechische. Die Übertragung des Hag Hammadi Textes erfolgte etwa im 2. Jahrhundert n.Chr. Die Originaltexte sind damit spätestens im ersten Jahrhundert nach Christus entstanden und damit sehr zeitnah zu Jesu Leben. Für etwa die Hälfte der Texte gibt es Übereinstimmungen mit den synoptischen Evangelien Matthäus, Markus und Lukas, für die andere Hälfte nicht. Nicht alles, was als Jesusworte im Thomasevangelium überliefert ist, passte zu den kirchlichen Lehren. Deshalb wurde kurzerhand das gesamte Thomasevangelium als häretisch aussortiert.

Gott bewahrt sein Wort. Die gesammelten Jesusworte im Thomasevangelium geben einen Blick auf Jesus, der frei ist von Personenkult. Er zeigt, für was Jesus wirklich stand, sofern man das nach über 2000 Jahren und magerer Quellenlage überhaupt noch sagen kann. Er zeigt einen kämpferischen Jesus, der nicht so pazifistisch war, wie er nachträglich gemacht wurde, was allerdings auch schon in den kanonischen Evangelien nicht ganz weg zu redigieren war. Im Logion 16 von Codex II aus Nag Hammadi (NHC) liest man folgendes:

Jesus spricht: „Vielleicht denken die Menschen, dass ich gekommen bin, Frieden in die Welt zu werfen. Doch sie wissen nicht, dass ich gekommen bin, Zwistigkeiten auf die Erde zu werfen: Feuer, Schwert, Krieg. Es werden nämlich fünf in einem Haus sein: Es werden drei gegen zwei sein und zwei gegen drei, der Vater gegen den Sohn und der Sohn gegen den Vater. Und sie werden dastehen als einzelne.“ (NHC II, 2,16).

Was hat Jesus da vorhergesehen? Wieviel sind in seinem Namen in Kriege gezogen? Heute noch? Wieviel reklamieren ihn für sich, ohne einig zu sein, ja unversöhnlich? Katholische Kirche gegen evangelische Kirche und wiederum in der Lehre unterschiedlich die orthodoxen Kirchen. Nicht zu vergessen die vielen evangelikalen Kirchen oder Freikirchen. Schon nach Jesu Tod fingen die Zwistigkeiten an: Paulus gegen Jakobus, den Jesus nach NHC II, 2,12 zu seinem wahren Nachfolger bestimmt hat (NHC II, 2,12):

Die Jünger sprachen zu Jesus: „Wir wissen, dass du von uns gehen wirst. Wer ist es, der über uns herrschen wird?“ Jesus sprach zu ihnen: „Woher ihr gekommen seid – zu Jakobus dem Gerechten sollt ihr gehen, um dessentwillen der Himmel und die Erde entstanden sind.“

Über den Jakobusbrief in der Überlieferung von Nag Hammadi habe ich schon berichtet. Er eröffnet einen anderen Blick auf das, was Jesus mit „glaubt an mein Kreuz“ gemeint hat. Von Paulus, der Jesus nie getroffen und sich seine Lehre frei zusammengereimt hat, ist im Codex Nag Hammadi mit keiner Silbe die Rede.

Oder hat Jesus mit seinem Wort über die Zwistigkeit, die er bringt, seine kommende Vereinnahmung durch die verschiedensten, nicht miteinander zu vereinbarenden Theologierichtungen gemeint? Die Unterschiede fangen schon mit den verschiedenen Evangelien an, die in ihrer theologischen Richtung bei näherer Betrachtung unvereinbar sind. Das fällt nicht auf, wenn man innerhalb eines Evangeliums liest, oder nur 5 Verse, jedoch wenn man horizontal liest, die verschiedenen Stellen parallel, entdeckt man die Unterschiede. Etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, bei der grundlegenden Auffassung, ob das Reich Gottes mit Jesus bereits gekommen ist oder erst noch kommen wird. Wenn man darauf achtet, entdeckt man im horizontalen Lesen der vergleichbaren Bibelstellen den unterschiedlichen Duktus, der zu völlig anderen Schlussfolgerungen, Botschaften und Konsequenzen für die Leser bzw. Gläubigen führt, nimmt man sie ernst.

Das Markusevangelium, das als ältestes Evangelium angesehen wird, ist z.B. aus apokalyptischer Sicht geschrieben. Die Jesusworte werden hier so formuliert, dass die Botschaft ist: Gottes Reich kommt bald, durch den „Menschensohn“. Jesus, der Menschensohn, wird die Welt und ihre Menschen danach richten, ob sie Jesu Lehre angenommen haben oder nicht. Jesus ist derjenige der das Reich Gottes in das irdische Leben bringt. Nach seinem Tod wird Jesus bald zum Gericht zurückkehren und Gottes Reich bringen (was sich dann nicht erfüllt hat).

Das Matthäusevangelium ist dagegen in jüdischer Tradition verfasst. Matthäus Botschaft ist: Die Prophezeiungen aus der Alten Schrift sind mit Jesus in Erfüllung gegangen. Wer die Gesetze und die Gebote nicht einhält, wird das Heil nicht finden. Gottes Reich ist mit Jesus noch nicht gekommen. Eine diametral entgegengesetzte theologische Position vertritt Paulus: In Paulus Sichtweise braucht man kein Gesetz halten, um das Heil nicht zu verlieren, mit einer Ausnahme: das Gebot „Liebe deinen Nächsten“. Wieso genau das gilt und andere Gebote nicht, die wesentlich öfters in der Bibel erwähnt werden, ist unklar. Aber, an sich ist auch das bei Paulus egal, da der Mensch schon durch den Glauben allein an Jesus Christus gerechtfertigt ist. Bei Matthäus geht dagegen ohne Einhaltung des Gesetzes gar nichts. In der Bergpredigt heißt es:

„Ihr sollt nicht wähnen, dass ich gekommen bin, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn ich sage euch wahrlich: Bis dass Himmel und Erde zergehe, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüttel vom Gesetz, bis dass es alles geschehe. Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute also, der wird der Kleinste hießen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich“ (MT 5, 17-19).

Das nimmt, interessanterweise, der Jakobusbrief wieder auf: Denn so jemand das ganze Gesetz hält und sündigt an einem, der ist’s ganz schuldig (Jk 1,10). Jakobus hat Jesus in einem im Thomasevangelium zitierten Logion wie bereits erwähnt zu seinem Nachfolger erklärt. Jesus war dieser Position gemäß seiner jüdischen Tradition sehr nahe, Paulus sehr ferne.

Der Schreiber des Lukasevangeliums hatte eine noch andere theologische Position: Jesu Tod soll die Menschen dazu bringen ihre Sünden zu bereuen und zu Gott umzukehren. Das Heil erwirkt der Mensch durch Buße, wodurch er Vergebung erlangt. Sünden müssen vergeben werden und dazu ist Umkehr und Buße notwendig. Jesu Tod ist für ihn kein Tod für unsere Sünden. Gleich im Eingangskapitel stellt Lukas seine theologische Position klar.

Die Erkenntnis des Heils besteht, wie im Benedictus festgehalten, „in Vergebung ihrer Sünden durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes“ (Lk 1, 77). Manche übersetzen, dass die Barmherzigkeit unseres Gottes uns „besucht hat“, andere „besuchen wird“. Das ist für einen Gläubigen ein fundmentaler Unterschied. In dem einem Fall hat Gottes Barmherzigkeit uns schon besucht, im anderen Fall wird sie es erst in einer unbestimmten Zukunft tun. Auch in die Übersetzungen spielen die theologischen Positionen hinein. Für Lukas ist Sünde immer mit noch notwendiger Vergebung verknüpft, Jesu Tod erinnert daran, dass die Menschen zu Gott umkehren müssen. Jeder Mensch muss aber für sich Buße tun und Vergebung erlangen.

Eine wesentlich abstraktere Sicht herrscht im Johannesevangelium, das als letztes entstanden ist. Jesus ist hier fleischgewordenes Wort und Jesus wird in seiner Person in den Mittelpunkt gestellt. Der Schreiber legt Jesus eine Vielzahl „Ich bin“ Worte in den Mund. Wer wie er Licht werden will und zum Vater in den Himmel kommen will, glaube an ihn und seine Worte. „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich” (Joh 14, 6). Im Johannesevangelium wird Jesus zum Flaschenhals zur Erreichung des Heils. Es hat eine Sonderstellung, da es eine eigene Theologie vertritt, die nicht Jesu Auffassung war und sein konnte, da Jesus in jüdischer Tradition und Kultur aufwuchs und lehrte, nicht in griechischer.

Und was vertreten die Kirchen heute? Sie nehmen sich verschiedene Teile aus allen Evangelien und der Bibel und bauen sich daraus ihre eigenen Theologien und Dogmen, für sich in Anspruch nehmend, dass allein ihre Variante zum Heil führt. Alle Varianten sind gleich richtig oder falsch.

Jesus spricht: „Vielleicht denken die Menschen, dass ich gekommen bin, Frieden in die Welt zu werfen. Doch sie wissen nicht, dass ich gekommen bin, Zwistigkeiten auf die Erde zu werfen: Feuer, Schwert, Krieg. Es werden nämlich fünf in einem Haus sein: Es werden drei gegen zwei sein und zwei gegen drei, der Vater gegen den Sohn und der Sohn gegen den Vater. Und sie werden dastehen als einzelne.“ (NHC II, 2,16).
Lieber Luther, genauso ist es gekommen und genauso wird es weitergehen.

Weitere Texte aus der Quelle Nag Hammadi: http://deborrahs.com/?s=Nag+Hammadi

Herzliche Grüße
Deborrah

Freitag, 1. Januar 2016

Psalmen und Sprüche

Lieber Luther,

ich habe mich entschlossen, nach einem Jahr Pause wieder einen Bibelleseplan anzufangen, der mich täglich einen Blick in die Bibel werfen lässt. Ich will mir nicht mehr so viel zumuten wie 2014, das könnte ich neben meinen übervollen Berufsalltag nicht schaffen. Ich werde also die nächsten 372 Tage Psalmen und Sprüche lesen. Ich habe gerade angefangen und merke, wie mich das inspiriert.

Psalmen sind Lobgesänge. Schon im Lesen merkt man, wie der innere Mensch, die Seele, anfängt, die Schönheit und Erhabenheit Gottes zu besingen. Die Gedanken können kaum folgen, so angeregt sind sie von beiden – Psalmen und Sprüche. Ich könnte schreiben und schreiben…

In den Psalmen und Sprüchen sind wir alle gleichermaßen als Kinder Gottes angesprochen:

Du bist mein Sohn, meine Tochter, mein Kind,
ich habe dich heute gezeugt (Ps 2, 7).
Du bist in mir jeden Tag neu erschaffen.
Ich zeuge von dir. 

Bei den Sprüchen ist beschrieben, worum es geht: Es geht darum, die „Worte des Verstandes“ zu verstehen, es geht um Gottesverständnis, um Weisheit und Erkenntnis. Es geht darum, „verschlungene Rede“ zu verstehen, die Gottes-Weisheits-Worte der Weisen und ihre Rätsel (Spr 1,5)

Sprüche 1 ist ein Auftakt, der die Richtung weist: So höre mein Kind. Es liegt nicht auf der Hand, es ist nicht einfach zu verstehen, was die Botschaft Gottes ist und die Lehre ist, die daraus zu ziehen sind. Gott ist ein Rätsel und gibt Rätsel auf, die der Mensch nur bedingt entschlüsseln kann. Gott vermögen wir nicht direkt zu befragen. Auch wenn wir alle Weisheit dieser Welt zusammennehmen, ein Gottes-Ganzes wird daraus nicht. Auch die Weisesten können nur helfen, sich dem Göttlichen zu nähern. Es bleibt immer nur eine versuchte Annäherung. Was auch bleibt, ist die Versuchung, falschen Verlockungen nachzugeben, wider die Weisheit. Nur Narren verachten Weisheit und Verstand (Spr 1, 7).

Psalmen und Sprüche sind voller Weisheit und es bedarf der Weisheit, sie zu verstehen und seine Lehren daraus zu ziehen. Sie fordern auf: Mein Sohn, meine Tochter, sei nicht hochmütig, geh in die Lehre, nutze die Weisheit, von der Psalmen und Sprüche erzählen, um deinen Weg zu finden. Die Psalmen und Sprüche erzählen auch davon, dass die Weisheit sich nicht einfach Bahn bricht. Sie erzählen vom Leben wie es ist, ohne Schönfärberei, darin eingeschlossen Gewalt- und Machtausbrüche, so wie diese, bar jeder Weisheit, unleugbar Teil des Lebens sind.

Wenn wir heute nur einmal die Nachrichten anschauen, übertreffen wir heutzutage spielend die in der Bibel berichteten Gräueltaten. Scheinheilige Empörung ist fehl am Platz und hält uns nur den Spiegel unserer eigenen Falschheit vor. Auch in der Beziehung ist die Bibel schonungs- und zeitlos. Nur die Mittel der Gewalt haben sich geändert. Sie sind noch brutaler und tödlicher geworden. Menschen schrecken vor keiner Abscheulichkeit gegen andere Menschen und gegen die Schöpfung zurück. Heute wie vor 3000 Jahren. Nur erlaubt die heutige Technik eine flächendeckendere und entmenschlichtere Menschen-Ermordungs-Maschinerie als vor 3000 Jahren. Drohnen und Bomber müssen ihren Opfern nichts ins Auge sehen. Man muss nur noch auf den Knopf drücken und „die Sache“ ist erledigt. Blut klebt den Verantwortlichen nur indirekt an den Händen.

Psalmen und Sprüche spiegeln Glaubenserfahrungen und Glaubensweisheiten wider, die zum Teil über 3000 Jahre alt sind. Sie sind nach und nach entstanden. Die Mehrzahl der Psalmen wird König David zugeschrieben, die Sprüche seinem Sohn Salomon. Faktisch sind sie jedoch nicht als ein Ganzes entstanden, sondern im Laufe der Jahrtausende erst unter „Psalter“ und „Sprüche“ zusammengefasst worden. Auch die Reihenfolge, in der sie stehen, war keinesfalls fix. Sie haben vielfältige Autoren, Anpassungen und Veränderungen erfahren. Ein erstes Buch „Psalmen“ entstand etwa 300 v.Chr., aber nicht in seiner jetzigen Form.

Letzten Endes ist die Entstehungsgeschichte unerheblich, sofern man nicht aus dem Blick verliert, dass die Texte von Menschen über Jahrhunderte mündlich überliefert, irgendwann aufgeschrieben, abgeschrieben, übersetzt, interpretiert wurden. Jede Art der Überlieferung und Veränderung war vom jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Kontext geprägt. Alle Bibeltexte sind Menschenwerk, von Menschenhände und Menschengeist in seiner jeweiligen Zeit in eine mündliche oder schriftliche Form gebracht. Selbst jetzt gibt es nicht „die“ Bibeltexte. Die Unterschiede in den Übersetzungen sind zum Teil erheblich und führen zu völlig unterschiedlichen Botschaften. Ich habe darüber schon häufig geschrieben.

Aber, selbst das ist unerheblich, denn, um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen, es geht darum, Erkenntnis, Weisheit und Verständnis des Göttlichen zu vermitteln, um dem Menschen zu ermöglichen, die richtigen Lehren daraus zu ziehen. Es geht um die Botschaft, um die Lehre, weniger um die Entstehungsumstände, es geht nicht um absolute Wahrheiten, sondern um „die“ Wahrheit, die jeder Mensch, in seinen besonderen Lebensumständen, daraus zieht.

Niemand kann einem das Vorbeten. Die Söhne und Töchter Gottes sind selbst gefragt. Jeder liest anders, hat einen anderen Erfahrungs-, Lebens- und Bildungshintergrund. Es gibt kein „wahres“ Lesen oder eine „wahre“ Interpretation dessen, was diese Glaubemsweisheitsliteratur zu vermitteln hat. Sie ist zeitlos und glücklich, wer sie frei von Doktrin mit persönlichem Gewinn lesen kann.

So kann, lieber Luther, jeder über Psalm 2 nachdenken:

Warum toben die Nationen und beherrschen Egoisten die Welt?
Warum ratschlagen Machthaber miteinander gegen andere Machthaber? 

Die Antwort ist radikal:

Lasst uns zerreißen ihre Bande und von uns werfen ihre Seile, in die sie uns binden und verstricken.

Nachdenken kann man auch darüber, wieso Ps 2 der meistzitierte im Neuen Testament ist. Der Psalm wird gerne angezogen, um Jesus vermeintlich exklusive Gottessohnschaft theologisch zu vereinnahmen.

„Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt.“ (Ps 2, 7)

Lukas nimmt das in seiner Weihnachtsgeschichte  auf  (Lk 1, 35). Mariens Schwangerschaft vom Heiligen Geist sagt im Prinzip nichts anderes als Psalm 2, 7: Der Sohn der Maria ist ein Sohn Gottes, so wie all diejenigen, die – wie in Ps 1, 2 zu lesen – ihre Lust an Gott haben und Tag und Nacht zu ihm hinstreben. Auch bei Jesu Taufe wird diese Botschaft erneuert: „Du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe“ (Mk 1, 11; Mt 3, 17). Das macht auch theologisch Sinn. Jesu Taufe wird in der Bibel vor den Beginn seiner Lehrwanderschaft gesetzt. Was liegt näher als eine Bekräftigung der Überzeugung, dass derjenige, der lehrt, und dem man eine zentrale Bedeutung in der eigenen Gotteslehre zumisst, auch ein Sohn Gottes ist und kein Gottloser. Ein weiteres Bekenntnis der Gottessohnschaft Jesu erfolgte im Bericht über die Verklärung Jesu. Auch hier heißt es: Und eine Stimme fiel aus der Wolke und sprach: Das ist mein lieber Sohn; den sollt ihr hören! (Mk 9, 7).

In den Psalmen belehrt David die Menschen, in den Sprüchen Salomon, in den Evangelien Jesus: Das ist mein Sohn – oder König, oder Gesalbter -, den sollt ihr hören! Lieber Luther, in dem Sinne, spitzen wir die Ohren, öffnen unser Herz, unseren Verstand und unsere Sinne, dass etwas von der Weisheit dieser Lehrer zu uns überspringt.

Herzliche Grüße
Deborrah

PS: Die Lesefrüchte kannst du hier verfolgen
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