Lieber Luther

Lieber Luther

Samstag, 31. Oktober 2015

Körperschaftlich praktizierte Nächstenliebe

Lieber Luther,

nicht dass du meinst, ich habe vergessen, dass heute Reformationstag ist. Fast nirgends findet man einen Hinweis darauf. Auch die Kirchen übergehen diesen Tag mittlerweile sanglos. Aus Ärger darüber habe ich genau heute vor 3 Jahren meinen Briefwechsel mit dir angefangen. Was würdest du wohl zu dem heutigen Zustand der Kirchen sagen? Bei uns im Landkreis, so berichtet die örtliche Zeitung, haben sie sich zu einem „Krisengipfel“ getroffen, weil immer mehr Menschen die Kirche verlassen. Und was haben die Kirchenfunktionäre, „die höchsten Geistlichen der Region“, 2 evangelische und 1 katholischer Vertreter, dazu zu sagen? Die Antworten sprechen Bände.

Zunächst Statistisches: von etwa 80 Mio. Menschen gibt es, Stand 2013:

  • Konfessionsfreie: 36%
  • Katholiken: 29,6 %
  • Protestanten: 28,2 %
  • Muslime: 4,2 %
  • Sonstige: 1,4 %


Die genauen Zahlen zu den Kirchenaustritten seit 2014 hat die evangelische Kirche – im Gegensatz zur katholischen Kirche – vorsichtshalber nicht veröffentlicht, aber sie dürften bei rund 250.000 Mitgliedern liegen.

Worin sehen die örtlichen Kirchenfunktionäre nun die „Krise“?

Als erstes wird die Abgeltungssteuer dingfest gemacht. Die Kirchen wollten – unter dem Deckmäntelchen der Gerechtigkeit – noch etwas mehr vom Steuerkuchen und haben deshalb mit Beginn 2015 durchgesetzt, dass die Banken bei der Abgeltungssteuerabführung auch die Konfessionen der Steuerschuldner angeben müssen, so dass sich keiner mehr darüber hinweg mogeln kann. Es geht „natürlich“ um Gerechtigkeit, nicht um Gier. Die Mitglieder beider Kirchen haben mit Kirchenflucht reagiert. Die Kommunikation dazu, so heißt es, sei nicht glücklich gelaufen.

Aber, betrifft das die Kirchen wirklich? Die Steuereinnahmen sprudeln trotz einer halben Million Mitgliederverlust munter weiter und haben 2014 den beiden großen Kirchen ein Rekordniveau von rund 11 Milliarden EUR (!) beschert. Wenn bei einem Unternehmen die Kunden in Scharen davonlaufen, weil sie keine die Kunden überzeugende Produkte oder Dienstleistungen liefern, läuten alle Alarmglocken. So paradox das klingt: Bei den Kirchen ist es gerade umgekehrt. Der Kirchenfunktionär sagt dazu: Sie stellten sich darauf ein, dass es „in den 2020er bereits sparsam werden muss.“ Die Kirche könne dann nicht mehr alles leisten. Einen Rückzug auf Städte und „Premiumstandorte“, das sagt er wirklich und lässt mit dieser Wortwahl tief hinter die Kulissen blicken, wolle man nicht.

In einem Unternehmen denkt man laufend über Effizienzsteigerungen nach, den Kirchenfürsten fällt als erstes Leistungsverzicht ein – auf Rekordsteuereinnahmenhöhe. Wie haben die Kirchen das wohl vorher gemacht, als die Steuereinnahmen niedriger waren, aber die Seelsorger noch Seelsorger?  Wie machen die Kirchen das in allen anderen Staaten der Welt, in denen es keine Kirchensteuer gibt? Nicht nur die Steuereinnahmen der Kirchen sind auf Rekordniveau, sondern auch ihr eigenes Anspruchsdenken. Anstatt über das eigene Anspruchsdenken nachzudenken, wir stattdessen eine immense Erwartungshaltung im „Ehrenamtsmanagement“ beklagt.

Antwort zu Christentum und Flüchtlingsfrage:  Die Kirche kann nicht losziehen und eingemeinden.

Antwort zu „Kirchenkultur“ im Wandel: Immer weniger Bestattungen. Man braucht den Pastor, den man sowieso nur von weitem kennt, nicht mehr, um unter die Erde zu kommen. Die Bestattungsredner machen das auch gut oder gar besser – sie haben als Ansporn, dass sie, im Gegensatz zu den Pastoren, ihr Geld damit verdienen. Wer nicht gut ist, bekommt keine Aufträge. Die Kirchen bekommen keine Aufträge, aber trotzdem viel Geld. Und trotzdem fragen immer weniger diesen „christlichen Dienst“ nach, obwohl er doch nichts koste, wundert sich eine Kirchenvertreterin. Und was ist mit dem Goldesel „Kirchensteuer“, fragt man sich verwundert, für was zahlt man die denn eigentlich?

Aber nicht nur die Bestattungen gehen zurück, auch die Taufen. Nur noch jedes zweite Kind wird getauft, Tendenz sinkend. Was fällt dem Kirchenvertreter dazu ein: ‚Wir müssen die Meilensteine einer kirchlichen Biografie wie Taufe und Konfirmation attraktiver gestalten, um den veränderten Familienformen gerecht zu werden“. Wie bitte? Es bleibt leider ungeklärt, was die Attraktivität der „kirchlichen Biografie“ mit veränderten Familienformen zu tun hat.

Und was gibt es zu den „leeren Kirchenbänken“ zu sagen? Alternative Formen, wie bei der Einschulung oder Erntefeste würden besser bei den Gläubigen ankommen. ???? Einschulung kommt 1x im Jahr vor und Erntefest zieht höchstens auch 1x im Jahr, und nur auf dem Dorf. Und zudem gibt es beides seit Jahr und Tag, wo ist da die „alternative Form?“, wo der Alternativentwurf?

Blick in die Zukunft gefällig? „Wir stellen Haushalts- und Stellenpläne auf“. Aber das sei nur die eine Seite.

„Wir werden auch 2030 nahe bei Gott und den Menschen sein. Wir haben zunächst immer eine inhaltliche Aufgabe. Wir sind die Körperschaft, die sinnstiftend Nächstenliebe praktiziert – selbst wenn wir in 15 Jahren eine kleine Gruppe sein werden“. 

Das muss man nochmals wiederholen, sonst glaubt man es nicht: Wir sind die Körperschaft, die sinnstiftend Nächstenliebe praktiziert. Technokratischer und bürokratischer kann man kaum kirchliches Selbstverständnis definieren. Worin die Sinnstiftung besteht, wird allerdings nicht ausgeführt und mir ist auch neu, dass eine Körperschaft Nächstenliebe „praktizieren“ kann. Hört sich nach organisierter Nächstenliebe an.

Lieber Luther, da gefriert einem das Blut in den Adern: körperschaftlich praktizierte Nächstenliebe als kirchliches Selbstverständnis. Ob Jesus das so verstanden hat mit dem Glauben? Die Krise der Kirche, worin besteht sie? In einem Kirchenpersonal, das mit einer solchen Kopfhaltung seinem unkündbaren Kirchen-Beamtenalltag nachgeht. Diese Antworten lassen tief blicken, worum es Kirche heutzutage ungeschminkt geht: um Mitgliederzahlen, Schönrechnen der Wanderungsbilanzen zwischen Taufen, Sterbenden und Kirchenaustritten, Steuereinnahmen, Haushalts- und Stellenpläne, strategische Standortwahl und Ehrenamtlichenmanagement. Ein verbeamtetes Wirtschaftsunternehmen, mit einer technokratischen Sprache und einem bürokratischen Inhalt, eben eine Körperschaft der Nächstenliebe. Das steht zumindest auf dem Etikett, ohne hier der Frage nachzugehen, worin diese technokratische Nächstenliebe genauer besteht. Der Beruf „Nächstenliebe“ auf der Visitenkarte macht sich nicht so schlecht als Verkaufsargument, denken sich wohl die Kirchenmarketingstrategen. Jedoch, nimmt ihnen der Gläubige das ab? Terbatz van Elst, die Kindesmissbraucher und der wegen seines Coming Out von seinen Kirchenämtern entbundene Priester lassen grüßen.

Die kirchlichen Würdenträger machen nicht einmal den Versuch, ihren technokratischen Ansatz zu verbergen.

Es findet keine Erwähnung:

Dass ein Problem in der Lehre bestehen könnte.
Dass die Lehrgebäude auf tönernen Füßen stehen.
Dass ihre Dogmen veraltet sind und die Kundschaft nicht mehr überzeugen.
Dass eine Legitimationslücke herrscht.
Dass die leeren Kirchen ihre Ursachen nicht in den Familien haben, sondern in den Leerformeln der Kirchen.
Dass sie den gläubigen Menschen nicht mehr ansprechen, und zwar nicht als Freizeit- oder Sozialbürger, sondern als Christ, als Gläubigen, als einer, der mit seinem Glauben ringt.( wir können nicht losziehen und eingemeinden).
Dass sie entkernt sind von ihrer ursprünglichen Kernkompetenz.
Dass es nur noch um Verwaltung der Tat geht ( Körperschaft der Nächstenliebe), nicht mehr um den Geist.
Dass die Kirchen geistlos daherkommen.
Dass der heutige Pastor kein Seelsorger mehr ist, der einem im Glauben weiterhilft, wenn nötig, sondern ein Bürokrat mit Sprechstunden wie ein Zahnarzt, sofern er überhaupt bereit ist, mit einem zu sprechen.
Dass es im Kirchenalltag um Organisation von diesem und jenem geht und nicht um Spiritualität und die Auseinandersetzung mit Glauben, Gläubigen und denen die Suchen.
Dass Glauben immer mehr außerhalb von Kirchen stattfindet, ohne Zwangsmitgliedschaft und Dogmen und Bevormundung.
Dass…

Lieber Luther, ich könnte die 95 Thesen, die ich dir schon vor 3 Jahren geschickt habe, wieder schicken, nichts hat sich zum Besseren gewendet, eher im Gegenteil. Die oben erwähnten Kirchenoberen erzählen davon Bände.  Nur eines hat sich seither für mich verändert: Ich habe die Konsequenzen mittlerweile gezogen und meine Mitgliedschaft in dieser die Kirchenmitglieder verwaltenden Bürokratie auf Kosten des Steuerzahlers mittlerweile gekündigt. Glauben geht anders als die Kirchen es vorleben. 2015 tauche auch ich in den Austrittszahlen auf - sofern sie veröffentlicht werden.

Herzliche Grüße
Deborrah

Die Zitate stammen aus der örtlichen Tageszeitung.

Freitag, 30. Oktober 2015

Luthers Bibelverständnis - Kirchenpolitik als Hidden Agenda

Lieber Luther,

ich habe mich ja schon in meinem letzten Brief mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Bibel das offenbarte Wort Gottes ist und dies negativ beantwortet. Trotzdem hat es mich beschäftigt, wie all die Missverständnisse zustande gekommen sind, wieso man ein so verdrehtes Bibelverständnis überhaupt haben kann und wieso Menschen im 21.Jahrhundert noch behaupten und lehren, die Bibel sei Gottes Wort, stellvertretend durch den Heiligen Geist in „die“ Bibel geschrieben. Es gibt die Schreiber der Texte, den Text an sich, die Leser oder Hörer, aber auch die Lehrer, die ihre Schäfchen lehren, wie man Gott und die Bibel insbesondere zu lesen und zu verstehen hat. Das Übel beginnt an der Wurzel. Darin liegt die Krux und damit will ich mich heute beschäftigen.

Es hilft zu verstehen, wie wir etwas verstehen und wieso wir verstehen, was wir verstehen. Um das zu verstehen, muss man sich mit Hermeneutik beschäftigen. Vorüberlegungen habe ich dazu schon angestellt. Die Frage stellt sich also, was das evangelisch-lutherische Grundverständnis der Bibel – in dem ich sozialisiert bin – ist, vor welchem Hintergrund es hermeneutisch zu verstehen ist und was die Schlussfolgerungen daraus sind.

Schon öfters habe ich davon berichtet, dass sich die Lutherübersetzung der Bibeltexte auf die äußeren Aspekte bezieht, wenn man dagegen die Elberfelder Übersetzung zur Hand nimmt, die inneren Aspekte des Textes zum Vorschein kommen. Anschaulich gemacht sei es am Beispiel von Psalm 34,3, Psalm 62,9 oder Psalm 127,3, am Beispiel der Geschichte vom Fischzug auf dem See Genezareth oder an vielen vergleichbaren Beispielen. Bisher habe ich die Unterschiede im praktischen Lesen der Bibel nur bemerkt, theoretisch verstanden habe ich sie aber erst jetzt.

Diese Unterschiede sind schon im lutherischen Grundverständnis angelegt. Zwei Dogmen schlagen Pflöcke ein, die bis heute Pfähle in den (evangelischen) Augen derer sind, die auf die Schrift blicken, und für die tieferen Aspekte der Texte und deren spirituelle Erfassung blind machen: Das eine Dogma „sola scriptura“ besagt, dass die Schrift klar und eindeutig ist und sich selbst auslegt. Das zweite Dogma besagt, dass die Schrift das wahre Wort Gottes beinhaltet, quasi vom Heiligen Geist selbst geschrieben worden ist.

Das „sola scriptura“ geht von der – wissenschaftlich und der Realität widerlegten – Annahme aus, dass die Heilige Schrift prinzipiell in den dort verwendeten Wörtern, im Literalsinn, universal auf Christus hin klar und verständlich lesbar sei, ebenso wie im moralischen Sinn. Voraussetzung, um die Texte überhaupt zu verstehen, sei jedoch – mit Augustinus –, dass man ein (christlich) gläubiger Mensch sei. Dem Judentum wird damit implizit abgesprochen, dass es die Texte, die durch seine religiöse Tradition erst übermittelt, verschriftlicht und bekannt sind, überhaupt „richtig“ versteht, weil es Jesus die Rolle nicht zuerkennt, die die Erfinder des Christentums, allen voran Paulus, ihm zuschreiben. Es geht um die Durchsetzung der christlichen Religion gegen das Judentum als Hidden Agenda.

Der gläubige Mensch begibt sich in diesem Verständnis in die Hand des Textes und dieser legt sich dann quasi – da vom Heiligen Geist in Eindeutigkeit und Klarheit geschrieben und geleitet – eindeutig aus, im Ergriffenwerden vom Text, eine hermeneutische Annahme, die auf Platon zurückgeht. Der gläubige Textausleger wird zu einem vom Heiligen Geist entmündigten Textausleger, zugespitzt gesagt, zu seiner Marionette. Die Trinität zwischen Vater, Sohn und Heiliger Geist wird als Tatsache unterstellt, obwohl dieses theologische Konstrukt nicht in der Bibel zu finden ist.

Die Schrift wird in dieser Sichtweise zur „Heiligen“ Schrift, von Gott selbst, über den Heiligen Geist, verfasst. Gottes Hand hat sie selbst geschrieben. Von dieser Annahme gingen auch schon die frühen Kirchenväter, wie Origines und Augustinus aus, wohl aber nicht die Verfasser der Texte selbst. Mehr als nur ein Schönheitsfehler. Die Schriften, mittlerweile wie selbstverständlich als „heilig“ bezeichnet, transportieren direkt die Botschaft Gottes an die Menschen zu deren moralischer Erneuerung. Die Buchstaben in diesen Texten werden als direktes Abbild Gottes gesehen, die einen einzigen, einfachen und festen Sinn haben.

Dass diese Annahmen nicht so einfach zu halten sind, haben schon damalige Gelehrte gesehen und deshalb weitere Hilfsgerüste geschaffen, um das ganze Gedankengebäude, mit der Schrift als theologisch kreierten alleinigen Fetisch im Mittelpunkt, nicht gleich zusammenstürzen zu lassen. Was, wenn der Interpret doch irrt, obwohl das von der Grundannahme her theoretisch nicht vorkommen kann? Die Realität hat schon damals diesem theoretischen Konstrukt nicht entsprochen. So ganz traute man den Bibellesern dann doch nicht über den Weg. Wie der – nicht gewollten – „Willkür“ in der Auslegung entgegenwirken? Mit neuen Annahmen und Konstrukten:

Philipp Melanchthon entwickelte die „Scopus“ Theorie, wonach „die“ Heilige Schrift einen einzigen, einfachen und festen Sinn habe, der sich im fortlaufenden Kontext der Aussage und mit den „Umständen der Angelegenheit“ ergebe. Die Vielfalt der Texte wird theoretisch-methodisch auf „die Hauptintention“ reduziert und unter die weitere Annahme gestellt, dass sich so ein einziger fester Sinn finden lasse. Es wird eine „Hauptintention“ suggeriert, völlig außer Acht lassend, dass es diese „Hauptintention“ bei der Vielzahl der Textschreiber über Jahrtausende schon theoretisch gar nicht geben kann, es sei denn – ja, es sei denn nicht die Schreiber haben die Texte geschrieben, sondern der Heilige Geist selbst.

Das Bindeglied zwischen Ausleger und Text seien, so Melanchthon, die sog. „locci communes“, allgemeingültige Lehren über die Hauptanliegen der Menschen, wie etwa Tugend, Sünde und Gnade. Damit ist inhaltlich und ethisch die Richtung schon festgezurrt: es geht um Tugend, Sünde und Gnade. Das kann man so sehen, muss man aber nicht. Diese Setzung führt zu einer weiteren Entmündigung des Lesers der Heiligen Schrift: Der Leser kann bei der Auffindung der „locci communes“ nicht etwa, wie bei jeder anderen Wissenschaft, auf sein ursprüngliches Wissen zurückgreifen, sondern muss sie sich von der – dogmatisch verordneten – „Autorität der Schrift“ diktieren lassen.

Doch nicht genug, der Schriftleser wird noch weiter an die Kandare genommen. Matthias Flacius Illycrius entwickelte, um ja keine anderen locci communes als die vom Autor identifizierten, aufkommen zu lassen, ein Wörterbuch der Heiligen Schrift. Dem reformatorischen Gedanken der Einheitlichkeit der Schrift und ihrer normativen Selbständigkeit wurde ein Lehrgebäude der Bibelexegese zur Seite gestellt. Die Stellung der Bibel wurde theoretisch-methodisch zu einem normativen Bollwerk ausgebaut, mit dogmatischen Vorgaben, wie sie und die moralische Botschaft dahinter zu verstehen sei. Das Luther-Lied, eine feste Burg ist unser Gott, kommt nicht von ungefähr. Luther verschanzt sich hinter den Buchstaben der Bibel wie in einer Wagenburg.

Die Texte der Bibel und ihre Schreiber derart zu erhöhen, sie quasi als gottgleiche zweite Schöpfer darzustellen, ihre Einheitlichkeit, Selbstverständlichkeit, Klarheit und Eindeutigkeit zu unterstellen, war ein Rückschritt in der bereits erreichten Ausdifferenzierung des Denkens und der hierfür erarbeiteten Methoden. Frühe Philosophen wie etwa Platon, Origines oder Augustinus, haben deutlich differenzierter gedacht, dem Textverständnis mehr Raum zur Entwicklung gegeben, und waren damit den heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen wesentlich näher, als der Rigorismus, die Engstirnigkeit und Begrenztheit des lutherischen Ansatzes der Bibelexegese. Aber gerade das Enge muss vor dem Weiten verteidigt werden, will es Bestand haben. Die Lutheraner haben deshalb selbst wiederum ein Methodengerüst aufgebaut, was sie bei der Konkurrenz jedoch, den Scholastikern, heftig abgelehnt haben. Es ist eben in der Beurteilung ein Unterschied, ob man etwas selbst tut oder die anderen.

Was hat Luther, der kein Dummkopf war, dazu gebracht, seine neue Kirche in einer Weise aufzustellen, an der sie heute noch krankt?

Die Hidden Agenda war: Kirchenpolitik. Augustinus hatte die Auslegungshoheit im Zweifelsfall dem Papst zugesprochen. Luther lehnte das Papsttum radikal ab. Also musste eine andere Lösung her, eben die dann postulierte Auslegung der Heiligen Schrift durch sich selbst. Anstelle des Papstes, wurde ein anderes menschliches Machwerk, die von Menschen zur Bibel zusammengestellten verschiedenen Schriften und deren Schreiber – unangemessen – überhöht.

Luther bekämpfte die Scholastiker, die eine – viel differenziertere – Methodik der vierfachen Auslegung der Bibel erarbeitet hatten, weil er das damalige kirchliche Lehramt und deren Macht ablehnte. Sein Gegenentwurf war die Volksbibel. Jeder sollte selbst die Bibel lesen können. Da er seine Kundschaft in der weitestgehend ungebildeten Masse sah, konnte ein auf philosophischen Feinheiten basierendes Auslegungsmodell – „willkürliche“ Auslegung lehnte er ab – nicht die Methodik seiner Wahl sein. Ein solches Szenarium wäre nicht mehr – von den kirchlichen Dogmatikern – zu beherrschen. Das gilt im Übrigen bis heute. Deshalb beschränkte er seine Lehre auf die aller äußerste Erkenntnisschicht – den Buchstaben der Heiligen Schrift -, unterfüttert mit einer entsprechenden restriktiven, die Auslegung begrenzenden Dogmatik.

Indem kurzerhand die Einheitlichkeit der Texte – trotz der historischen Vielfalt – proklamiert wurde, reduzierte sich – vordergründig – die Komplexität und die Möglichkeiten der Auslegung drastisch. Der interpretatorische Bewegungsspielraum des Bibellesers wurde streng reglementiert. Wer nicht spurt, den Bibeltext und deren Konsistenz auch nur in Frage stellt, im Rahmen der vorgegebenen Lehre versteht sich, bekommt als Etikett ungläubig und vom Heiligen Geist, dem Textschreiber, nicht geleitet. Eine ziemlich trübe Aussicht für alle Kritiker oder auch, wenn man es so sehen will, massive Einschüchterungsversuche der Abweichler. Auch das ein Gebaren, das sich bis heute in der evangelisch-lutherischen Kirche gehalten hat.

Jedoch, lieber Luther, für dich war eine Schlange eben auch keine Schlange, sondern ein Bild für den Satan, entgegen des Wortsinns. Die Theorie muss sich an der Praxis beweisen. Tut sie das nicht, taugt sie nicht zur Erklärung auch nur eines Teilausschnittes des irdischen Seins, nicht zu reden vom göttlichen Sein. Hat Jesus wirklich Tote aufgeweckt oder war das nicht doch bildlich gemeint?

Wieso in deiner Bibelübersetzung (siehe die Beispiele oben), die ich im Übrigen sehr schätze, der äußere Mensch im Vordergrund steht, wird verständlich vor dem Hintergrund der Lehre von deinem Primat des äußeren Wortes. Das verstehe ich nun auch theoretisch. Jedoch sind die Widersprüche, auch im Buchstabensinn, mittlerweile von Legionen – auch theologisch geschulter – Wissenschaftlern mit modernsten Methoden untersucht und deshalb höchst in Frage gestellt.

Vor dem Hintergrund gewinnt auch die Hidden Agenda der evangelisch-lutherischen Kirche deutlichere Konturen: Wenn man die nicht mehr haltbaren Basisannahmen zur öffentlichen Debatte stellt, bleibt nicht mehr viel übrig. Wenn man das theoretische Fundament weghaut, die Annahme der Gottgegebenheit „der“ Schrift und deren Selbstinterpretation, fällt das kirchliche Gebäude in sich zusammen und die Autoritätslücke im Lehrgebäude der evangelischen Theologie tritt zutage. Wenn nicht durch die Schrift, wie äußerst sich Gott dann? Es bleibt spannend.

Mit wahrlich reformatorischen Grüßen, lieber Luther, am Vorabend des Reformationstages 2015,

Herzliche Grüße
Deborrah


Montag, 26. Oktober 2015

Bibel - das offenbarte Wort Gottes?

Lieber Luther,

ist das Neue Testament gefährlich, frauenfeindlich, antisemitisch und homophob? So einfach ist die Frage nicht zu beantworten, deshalb muss ich nochmals an meinen letzten Brief anknüpfen. Jeder Text, so auch die biblischen Texte, haben Verfasser, die mit dem Text etwas bewirken wollen. Sie sind in einer bestimmten Zeit und Kultur, mit individuellem Bildungshintergrund des Verfassers, entstanden. Das beeinflusst was und wie sie schreiben. Davon habe ich dir schon geschrieben. Bei der Bibel, Altem und Neuen Testament, handelt es sich um eine Vielzahl solcher Texte, zusammengefasst in „der“ Schrift. Beinhaltet die Schrift das offenbarte Wort Gottes? Damit möchte ich mich heute auseinandersetzen.

Die Bibel ist ein Konglomerat aus Schriftstücken, die über viele Jahrhunderte hinweg produziert worden sind. Die Bibel ist zur Bibel geworden, indem diese verschiedenen Schriftstücke wiederum über Jahrhunderte hinweg letzten Endes kanonisiert und in ein Buch zusammengefasst wurden. Das macht sie an sich noch nicht zu etwas Besonderem. Den Homer‘schen Göttergeschichten ist es ähnlich ergangen oder Grimms Märchen.

Die Bibel wurde erst zur Bibel, indem das, was in ihr steht, durch kirchliche Zuschreibung zum Wort Gottes gemacht wurde. Gott wird zum eigentlichen Autor der Bibel erklärt. Ihr wird dadurch ein Alleinstellungsmerkmal zuerkannt, hinter dem man Gott als unanfechtbare Autorität vermutet. In Wirklichkeit sind es aber kirchliche Amtsinhaber, die diese Texte als Gotteswort postulieren und damit ihre Autorität gleich mit unantastbar machen wollen. Aus vielen Schriften wurde „die“ Schrift, garniert mit „heilig“, was half, die Autorität dieser Schriften zu unterstreichen. In der Bibel ist in keinem Text von „heiliger“ Schrift zu lesen, nur von „Schrift“, womit immer ein ganz bestimmter Text gemeint ist. Von Kirchenpolitik im Sinne von Machtsicherung ist diese angeblich heilige Zuschreibung nicht zu trennen, genauso wenig die Behauptung, dass der Vorgang der Kanonisierung göttlich inspiriert sei.

An die Stelle der traditionellen prophetischen Auslegung des göttlichen Willens im Judentum tritt in christlicher Uminterpretation die Schrift als kodifizierter Wille Gottes. Aus durch Prophetenmund gesprochenem Wort wird eine kodifizierte Buchstabenfolge, über deren Auslegung und Stellenwert bis heute gestritten wird, trotz aller dogmatischer Setzungen, dass sich „die“ Schrift als in sich konsistent selbst auslege.

Um bei der Auslegung der Schrift das Feld nicht Hinz&Kunz zu überlassen, wurde in der frühen Kirche die Auslegungshoheit dem Papst zuerkannt. Luther tat sein Scherflein dazu, um den Wortsinn der jüdischen Texte des Alten Testamentes christologisch umzuinterpretieren. Einzelne Bibeltexte werden ins Feld geführt und mit der ihnen zugesprochenen Autorität der (Schein)Beweis geführt, dass die kirchliche Lehre in ihren dogmatischen Aussagen mit „der“ Schrift und damit dem Wort Gottes übereinstimmt. Dass es „die“ Schrift niemals gegeben hat, fällt unter den Tisch. Der Gesamtzusammenhang und historische Kontext der völlig verschiedenen Texte, die Intention der Schreiber, der Tenor der Glaubenserfahrungen wird der Rechtfertigung der kirchlichen Dogmen geopfert. Theologisch angeleitete Bibelexegese, universal behauptete Verbalinspiration direkt von Gott, stellvertretend für den Rest der Menschheit empfangen.

Ist das von Gott gewollt, dass ich meine Beziehung zu Gott von der herrschenden Lehre bestimmen lasse oder ist es von ihm gewollt, dass ich diese durchschaue? Wieso sollte die kirchliche Position richtig und meine falsch sein? Mit welchem Recht setzt die Kirche mich vor Gott ins Unrecht und sich ins Recht? Kirchenrecht ist nicht Gottes Recht.

Die Bibeltexte insbesondere des Neuen Testaments wurden prägend für das christliche Ethos, für die abendländische Kultur mit ihren Vorstellungen von Gütern, Pflichten und Tugenden. Die Auseinandersetzung zwischen rechter Lehre und Irrlehre vollzieht sich im dogmatisch geleiteten Irrlichtern zwischen der Lehre von der Bibel als Wort Gottes und den modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen, in deren Spiegel diese Position ad absurdum geführt ist.

Wenn ich mein Bibel- und Christenbild, das mir in Jahrzehnten eingetrichtert wurde, so in Trümmern liegen sehe, frage ich mich, was das in der Konsequenz für mich, meinen Glauben, mein Verständnis der Bibel heißt. Eigentlich ist das einfach: Die Schrift, besser die Schriften, als das nehmen, was sie sind: Als Texte, die von Menschen für Menschen geschrieben wurden, um ihre Glaubenserfahrungen zu bezeugen und Zeugnis abzulegen von dem EINEN Gott. Die Autoren haben ihr jeweiliges Verständnis aufgeschrieben, um die Nachwelt zum Glauben an diesen Gott zu bringen, vor dem Hintergrund ihrer sozialen, kulturellen und politischen Lebenswelt. Es sind Zeugnisse dessen, wie Gott im Leben, in vielen unterschiedlichen Leben, über Jahrtausende, zu erfahren ist. Sie berichten von dem was bleibt, wenn der Mensch, der in seiner Lebenswelt verhaftet ist, geht. Ohne diese Zeugnisse weiß Mensch das nicht, hat nicht das Wissen oder die Erfahrung von diesem Gott, keine Chance sich bei diesem Gott zu bergen.

Zum Verständnis der Schriften braucht man Religion und Kirchen nicht, im Gegenteil, sie behindern und hemmen einen im Glauben, nehmen die eigene Offenheit den Texten, der schon einmal erlebten Glaubenserfahrung gegenüber und begrenzen einen auf die dogmatische Brille, verführen einen, unreflektiert nachzuplappern und die Dogmen nicht zu hinterfragen. Nur, dass man in dem Fall nicht Gott und Jesus folgt, sondern den Kirchenoberen. Es ist wie bei dem Rattenfänger von Hameln. Die Hidden Agenda wird nicht offengelegt, sondern einem von Kanzel, Ritus und Liturgie untergejubelt. Man wird, um es direkt auszudrücken, manipuliert. Man hinterfragt nicht mehr oder nicht mehr viel, da als Wahrheit von Kindesbeinen an vermittelt wird, was nichts als subjektive Setzungen, als dogmengetriebene Auslegungen der Schrift durch die Institution Kirche sind. Wenn man diese Brille absetzt, ist es wie eine Befreiung von einem Korsett, dann versteht man, was es heißt, wenn Jesus sagt: Mein Joch ist leicht. Die eigentliche Herausforderung beim Lesen der Schriften ist, die eigenen Scheuklappen, die einem aufgesetzt wurden, die Seh-, Denk-, Lese- und Handlungsverbote, zu überwinden.

Der Mensch vermag noch nicht einmal „das“ wahre Wort unter allen Menschen zu erkennen, schon gar nicht „das“ wahre Wort Gottes. Auch kein Verschriftlichtes. Jede Wahrheit auf Erden ist menschlich eingeschränkt und hält nur solange, bis jemand diese Wahrheit durch eine andere vermeintliche Wahrheit ersetzt und andere davon überzeugen kann. Unsere Wahrheiten sind zeitlich und sozial begrenzt und sind keine objektiven Wahrheiten, das heißt Wahrheiten, die alle Zeit, alle Kulturen, alle Menschen, alles Sein überdauern. Reine Wahrheit ist allein bei Gott und wir werden sie eines Tages erfahren. Menschen zu Göttern zu machen, ist Menschenwerk, nicht Gotteswerk. Wenn sich Menschen anmaßen, für Gott für andere Menschen zu entscheiden, erheben sie sich über Gott. Wenn sie aus Jesus etwas machen, was er selbst nie so gesehen hat, dann erheben sie sich über Gott. Wenn sie aus der Schrift das in Text gemeißelte Wort Gottes machen, erheben sie sich über Gott. Gott und sein Wort steht den Menschen nicht zur Disposition und nicht in ihrer Definitionshoheit.

Hat man sich erst einmal vom Kirchen-, Dogmen-, Religionsjoch befreit, ist man frei für seine Beziehung zu Gott. Uneingeschränkt kann man die Bibel- und andere Texte lesen und verstehen, was im eigenen Lebenskontext und –zusammenhang zu verstehen an der Reihe ist. Es gibt darin kein objektives Richtig und Falsch. Alles Lesen ist subjektiv und vom jeweiligen subjektiven Augenblick geprägt. In den Texten, die von Gott zeugen, scheint die Vieldimensionalität Gottes in unser eindimensionales Menschschein. Wie oft man die Bibeltexte auch liest, jedes Mal liest man sie anders, weil sich im Menschsein kein Augenblick wiederholt. Gott erschließt sich im Gesamtkontext dieser Texte im Lichte des eigenen Lebenskontexts, in der eigenen Glaubenserfahrung vor dem Hintergrund der Gesamtglaubenserfahrung. Das Zutrauen, Gott selbst in der Bibel zu erfahren, im Gesamtkontext ihn selbst zu finden, ist uns in zwei Jahrtausenden von den Kirchen genommen worden. Die Definitionsmachtanmaßung der Kirchen hat zur Entmündigung der Gläubigen geführt, aus der sie sich wieder Stück für Stück entwinden müssen. Das braucht seine Zeit. Die Entwicklung ist in vollem Gang.

Nun lieber Luther, beinhalten die Bibeltexte nun „das“ offenbarte Wort Gottes, das Gott den Schreibern in die Feder diktiert hat? Nein, „das“ Wort Gottes kennt nur Gott. Wir hören nur das Echo, das es in uns auslöst. Wenn es Stellen in der Bibel gibt, die gefährlich, frauenfeindlich, brutal, homophob sind, dann zeugen sie vom Verfasser, nicht von Gott. Aber nicht nur, auch vom Leser, der dies so wahrnimmt. Davon nächstes Mal mehr.

Herzliche Grüße
Deborrah