Lieber Luther

Lieber Luther

Sonntag, 28. September 2014

Baum der Erkenntnis

Lieber Luther,
schaut man auf die Kriege und Greueltaten dieser Welt, der heutigen Welt, nicht der vor 3000 Jahren, dann fragt man sich, wird sich das jemals verändern. Der Mensch, die Kulturen entwickeln sich langsam, wachsen zur Hochkultur, um dann irgendwann wieder in Barbarei zu verfallen. Es passiert immer wieder. Der Mensch lernt aus Angst, Schrecken und Schmerz nicht nachhaltig. Ist der eine Schrecken überwunden, gedenkt man des Furchtbaren eine Zeitlang, nach dieser Zeit gerät es dann in Vergessenheit und es fängt an, sich neu zu entwickeln. Das Böse, das Satanische regiert in der Welt, ist Teil von ihr, wird eine Zeitlang in Schach gehalten, gewinnt aber irgendwann wieder die Oberhand. Trockne deine Träne über die Verlorenheit der Menschheit im Bösen, sagt Gott. Wie kann ich das? Wo finde ich Trost?
Auch Jesus wurde vom Bösen verführt. Der Teufel wollte ihn verführen, er der alle Reiche der Welt jeden Augenblick im Blick hat. Alle Macht, alle Herrlichkeit in diesen Reichen der Welt ist ihm, dem Teufel, übergeben. Er gibt Macht und Herrlichkeit in dieser Welt wie er will. Der Teufel sagt: Es ist in mein Belieben gestellt, wem ich die Weltherrschaft gebe und ich gebe sie dem, der mich anbetet. Jesus widerspricht diesem Szenario nicht. Er sagt: Es steht geschrieben: Du sollst Gott, deinen HERRN, anbeten und ihm allein dienen. Alles, was weltlich ist, ist für Jesus belanglos, nicht ein Teil so begehrenswert, dass er sich dafür dem Teufel ausliefert. Es ist Gott allein, den er begehrt. Nichts konnte Jesus locken, nichts verführen. Und als der Teufel alle Versuchung vollendet hatte, wich er von Jesus "eine Zeitlang" (Luk 4, 1-13).
Lieber Luther, Jesus sagt: Es steht geschrieben… Alles Entscheidende, was Gott zu uns sprechen will, ist bereits ausgesprochen und zu Papier gebracht. Jesus begehrt nichts in dieser Welt, er begreift sich nur als Teil im Strom Gottes. Eine Zeitlang weicht der Versucher zum Bösen von ihm. Eine Zeitlang heißt: Er wird sein Glück wieder versuchen. Jesus und der böse Geist, die bösen Geister, sie kennen sich wie alte Bekannte. Klarer als jedes menschliche Auge, sieht der böse Geist den Sohn Gottes und die Bedrohung für ihn: von ihm vertrieben, ausgetrieben zu werden. In manchen Geschichten, in denen erzählt wird, wie Jesus das Böse aus den Menschen austreibt, weil ihm Macht auch über das Böse gegeben ist, versucht das Böse mit Jesus zu verhandeln, ihn dazu zu bringen, das Böse zu verschonen, es nicht aus der Welt zu tilgen. Die bösen Geister sagen: Bist du hergekommen, uns zu quälen, ehe denn es Zeit ist? Sie bitten Jesus, in eine Herde Säue fahren zu dürfen. Jesus gewährt die Bitte. Die Säue stürzten dann aber in den Abhang ins Meer und ersoffen im Wasser (Mt 8, 29-34). Der Text sagt aber auch: Es wird die Zeit kommen, an dem das Böse überwunden sein wird.
Das Böse treibt sein Unwesen, aber Gott vermag es zu tilgen. Das ist die Botschaft hinter allen Geschichten von der Austreibung des Bösen. Die zweite Botschaft ist: Das böse ist da, es mag eine Zeitlang verschwinden, taucht aber immer wieder auf. Es ist Teil des Lebens, Teil des Menschen. Gott, Jesus, beide in einem, kennen das Böse, sie sind mit ihm auf Du und Du. Das Böse regiert, wie in der Wüstenversuchung erzählt, die weltliche Macht. Gut und Böse ist das Weltkonstituierende. Damit bin ich beim heutigen Predigttext, bei den Anfängen. Was steht hierzu geschrieben? Was Jesus tut und erklärt ist neuer Wein in neuen Schläuchen. Was ist mit dem Wein in den alten Schläuchen? Mit Hiob habe ich mich schon auseinandergesetzt, auch mit Teilen der Schöpfungsgeschichte. Da alles schon geschrieben ist, muss eine Erklärung des Gut und Böse in der Schöpfungsgeschichte stecken. Was lehrt sie mich über das Gute und Böse, was ich bisher übersehen habe (1.Mose 2; 3)?
Ausgangspunkt ist der Garten Eden. E'den hat eine zwiefältige Bedeutung. Es heißt: Lust, Wonne, Lieblichkeit, Ergötzen, Wohlleben. Es heißt aber auch: Niederung, Ebene, Wüste. Das Hohe und das Niedrige, die Lust und die Wollust, beides ist in E'den angelegt. Gottes Garten enthält beides, das Gut und Böse, das Liebliche und das Teuflische.
Gott pflanzt in seinen Garten allerlei Bäume. Diese und jene. Der Baum, das biblische Bild für den Menschen. Auch von Jesus oft als Bild in seinen Gleichnissen gebraucht, ebenso wie das pflanzen und weingärtnern, das Pflegen des Gartens. Gott hat den Menschen in seinen lieblichen Garten gesetzt, damit der Mensch diesen Garten pflege. Der Garten Eden, das Bild für Gottes Lieblichkeit und Wonne, Gottes Liebe, wenn man so will. Er ist gegen Morgen gepflanzt, Richtung Aufgang des Lichts. Gegen Morgen heißt auch, in das Morgen, in das Kommende, in das Zukünftige.
Es geht von Eden ein Strom aus, ein Lebensstrom, um den Garten, das Wohlleben, in das der Mensch gesetzt ist, zu nähren, zu wässern, damit er nicht verdurstet. Der Strom Gottes, der uns am Leben erhält. Der Lebensstrom teilt sich in vier Hauptwasser. Er geht in zwei verschiedene Länder. Es wohnen nicht alle im gleichen Land. Vier verschiedene Strömungen gibt es in Gottes Garten, zwei Länder, die Gottes Strom umfließt.
Die erste Strömung heißt Pi'son, d.h. die Freifließende, die Fessellose, die Überbordende. Dieser Strom umfasst das Land Hawi'la, das heißt das Sandland, das Land des wirbelnden Flugsandes, in dem es Gold, aber auch Onyx gibt und Bedellion, Baumharz, das wohlriechend, aber bitterschmeckend und durchsichtig ist. Die zweite Strömung heißt Gi'hon, das heißt der Durchbruch, das Hervorquellen des Wassers, der Ausbruch der Wasserquelle. Dieser Strom umfasst das Land Kusch, das Land der verbrannten Gesichter, des Durcheinanders, der Verwirrung. Der dritte Strom heißt Hid'dekel, der Pfeil, der dahinschießt, das pfeilschnelle Wasser. Der vierte Strom ist der Euphrat, das liebliche, süße Wasser, das überfließend und sehr breit ist.
Was sagt uns das? Es gibt zwei Länder in Gottes Garten, das gute Land und das Land der Verwirrung. Das Sandland, das immer in Bewegung ist, die Wüste mit ihren Oasen, das arme reiche Land, in dem es Gold gibt. Gold steht in der Bibel für den Glauben des Menschen an Gott und die Treue Gottes zu den Menschen. Aber es gibt dort auch Onyx, die Kralle, die Klaue, den Huf, den Teufel, den Satan, das Böse, den wertvollen Stein, in dem sich das Licht vielfältig bricht. Der Stein mit vielen bunten Adern, so vielgestaltig wie das Leben. Zwischen Gold und Onyx, steht Bdellium, das am Baum Anhaftende. Es sieht erdenfarben aus, wie in Stein gemeißelte Erde und gleichzeitig in Stein gemeißeltes ausgeschiedenes Exkrement. Leben des Menschen zwischen Eingang und Ausgang. Bdelliumharz ist falsche Myrrhe, das Harz des Balsambaumes, aromatisch und zugleich bitter. Balsam für die Wunden zwischen Gut und Böse, zwischen Gold und Onyx, zwischen Gottesglaube und Verführung zum Bösen.Himmelsmanna (4.Mose 11,7), Himmelsnahrung zwischen Leben wie es ist. Himmelsnahrung, die Gott seinem Volk in der Wüste schickt. Zufall? Wohl kaum.
In der Mitte des Gartens Eden steht der Lebensbaum. Es gibt aber auch einen Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, von da'at, erlernbares und gleichzeitig vergebliches Wissen. Was der Mensch auch lernt, was Gott ihm sagt, es ist vergeblich, er tut es nicht, versteht es nicht, hält sich nicht daran. Jesus sagt später: ihr habt Augen zu sehen und seht nicht, ihr habt Ohren zu hören und hört nicht, ihr sollt entsprechend handeln und tut es nicht, selbst wenn ich es euch vorlebe. Das zeigt sich bei Adam und Eva bei der ersten Anfechtung des Bösen. Sie scheitern schon bei der ersten Herausforderung, bei der ersten Versuchung. Doch wieso?
Gott pflanzt allerlei Bäume in seinen Garten. Sie sind begehrenswert anzusehen und gut, im Hebräischen hamad. Auch hamad hat zwei Seiten: Es ist begehren, gelüsten, Gefallen finden, das auch Erfüllung findet, wie auch unerlaubtes Begehren, das Schaden anrichtet. Das Begehren ist es letzten Endes, das Adam und Eva ungehorsam werden lässt, das verführte Begehren. Ohne die Verführung, ohne jemanden der verführt, wären sie nicht auf die Idee gekommen, ausgerechnet die Hand gegen das auszustrecken, das sie ins Verderben führen wird. Nicht auf Gott zu hören, der gewarnt hat: Wenn du davon isst, bist du dem Tod verfallen, dem mehrfachen Tod: Den Toden, die ihr euch gegenseitig sterben lasst und – noch gravierender – dem Tod des Gehorsams, des Vertrauens, des Hörens auf das, was ich euch sage. Der Verführung zu folgen ist die Initialisierung von Gut und Böse. Von dem Augenblick an bekommt E'den seine Doppelbedeutung: das Liebliche, die Wonne, das Wohlleben bekommt seine Niedrigkeit. Das reine Gut gehört der Vergangenheit an, das Böse kommt in die verführte Welt.
Adam und Eva sind auf die List hereingefallen, auf die wohlformulierte Täuschung. Die Schlange sagte, wenn ihr davon esst, werden euch die Augen aufgetan und ihr wisst, was gut und böse ist, ihr werdet mitnichten sterben. Die Schlange hatte recht, Adam und Eva hat es aber nicht durchschaut: Es sind ihnen die Augen aufgegangen, sie haben erkannt, wie nackt und bloß sie sind, dass sie sich voreinander schämen müssen, haben ihre Verletzlichkeit, Hilflosigkeit und Schwäche erkannt. Was sie erkannt haben, hat ihnen nicht gefallen. Sie sind körperlich nicht gestorben, insofern hatte die Schlange auch hierin nicht die Unwahrheit gesagt. Sie hat nur so formuliert, dass sie das Begehren in den Menschen geweckt hat, ihnen ihre Zufriedenheit mit dem, was sie hatten – und es war reichlich – genommen hat. Ihnen suggeriert hat, das, was sie nicht haben, sei besser. Das Erwachen der Begierde, die Schwäche des Menschen in der Verführbarkeit, seine Blindheit und Taubheit gegenüber der Falschheit des Verführers, haben den Baum der Erkenntnis für alle Tage des Menschengeschlechts zu einem Baum der täuschenden Erkenntnis gemacht.
Gott hat sozusagen die Notbremse gezogen. Der Mensch hat angefangen, nicht auf sein Wort zu hören, er hat seine Hand dem Bösen gereicht, nach etwas ausgestreckt, das nicht gut für ihn ist, wider sein Wort. Er hat sich aufgeschwungen und wollte Gott gleich sein, die gleiche Erkenntnis haben wie Gott. Die Konsequenz. Gott nimmt die Wahlmöglichkeit in einem entscheidenden Punkt vom Menschen: Er verhindert, dass der Mensch sich nicht auch noch zum Herrscher über das Leben aufschwingt. Er schützt das ewige Gut vor dem Bösen. Als Schutzmaßnahme des Menschen vor sich selbst, um den Weg zum Baum des Lebens für den Menschen zu bewahren (1.Mose 3, 22-24). Das meint, wenn Jesus sagt: Und siehe, ich habe Satan wie ein Blitz aus dem Himmel fallen sehen (Luk 10, 18). Der Verführer, das Böse im Menschen, ist verbannt aus dem Garten des Wohlbefindens, es kann seine Verführungskünste nur noch in weltlichen Dingen zur Wirkung bringen, das ist ihm frei, aber nicht mehr in himmlischen. Das Böse kann das Gute in alle Ewigkeit nicht zum Einsturz bringen. Dafür hat Gott gesorgt.
Lieber Luther, Gott sichert uns mit diesem Rettungs-Akt den Zugang zu sich. Er hat Eden, den Ort seiner Liebe, für uns bewahrt, vor uns geschützt. Die Macht und die Reiche dieser Welt, die der Verführer unter seiner Kontrolle hat, sind von dieser Welt, hat er vor seine Tür gewiesen. Gottes Reich bleibt davon unberührt. Das zeigt uns die zweite Schöpfungsgeschichte. So bleibt uns die reine Quelle erhalten. Gott umfasst, wässert und nährt daraus diese Welt. Sein Lebensstrom, seine Wasserader umfasst uns. Jedoch, wem wir dienen, dem Verführer oder Gott allein, das liegt an jedem einzelnen. Jeder einzelne hat zu entscheiden, wem er nachfolgt. Selbstverantwortlich das in Kauf nehmend, was daraus folgt. Das meint Jesus, wenn er in verschiedenen Gleichnissen sagt, wer mir nachfolgt, darf nichts vom Weltlichen mitnehmen, sich vom Festhalten nicht leiten lassen, sondern muss tun, was Gott alleine dient. Er muss nackt und bloß, wie ein neugeborenes Kind, vor dem Baum des Guten und Bösen stehen, unmündig, unschuldig, ohne auf die Stimme der verschiedenen Verführungen zu hören. Die Weisen und Klugen, die vom Baum gegessen haben, verstehen das nicht. Wieso, ergibt sich aus obigem. Deshalb ist auch verständlich, wieso Jesus in diesen Jubel ausbricht: Ich preise dich Vater des Himmels und der Erde, dass du dies den Weisen und Klugen verborgen hast (Luk 10, 21).
Lieber Luther, gut und böse ist Teil des Menschsein. Das ist in der Schöpfung von vornherein angelegt. Gott hat aber vorgesorgt und vorgedacht. Das lindert mein Erschrecken vor den Menschen nicht, aber es macht mich sicher, auch angesichts allen Leides. Gott lässt uns die Wahl, wem oder was wir in unserem Begehren, in unserer Begierde, in unserer Gier, den Vorrang einräumen. Gott hat den Rückweg ins ewige Gut, in sein Leben, in seine Liebe für uns gesichert. Die Schöpfungsgeschichte zeugt von dieser göttlichen Konstitution. Sie hilft mir, das Gut und Böse des Menschen im göttlichen Gefüge einzuordnen und zu relativieren. Jesus wusste, das Böse regiert diese Welt, aber nur eine Zeitlang. Das Böse ist aus dem Himmel gefallen, damit der Weg für das Gute dorthin offensteht. Für den einen ist die Zeit da, für den anderen nicht, dauert noch eine Zeitlang, abhängig vom Strom, in dem er sich bewegt, abhängig vom Land, in das er zieht. Und immer gilt die Zusage: Ich will dich behüten, wohin du auch ziehst und will dich wieder herbringen in dies gute Land (1.Mose 28, 15).
Herzliche Grüße
Deborrah

Sonntag, 21. September 2014

Saulus Paulus

Lieber Luther,
Jesus sagt: Der Menschen Sohn ist nicht gekommen, der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu erhalten (Lk 9, 56). Paulus schreibt: Ich schreibe euch Korinthern lieber all mein Missfallen an euch, damit ich, wenn ich zu euch komme, nicht die Schärfe brauchen muss nach der Macht, welche mir der HERR, zu bessern und nicht zu verderben, gegeben hat (2.Kor 13, 10). Mal sehen, wie Paulus das anfängt.
Ich bin, lieber Luther, weiter mit Paulus beschäftigt, ihm auf der Spur, nicht so recht wissend, wo mich das am Ende hinführt. Ich hatte dir schon von meinen Irritationen über den 1.Korintherbrief geschrieben. Was bringt auf der Spurensuche nun der 2.Korintherbrief? Weitere Irritationen, um es vorwegzunehmen. Was Paulus schreibt, bedarf der Einordnung in seinen Lebenszusammenhang.
Saul berichtet von seiner Berufung, er habe eine Stimme gehört, die zu ihm sagte: Es wird dir schwer werden, wider den Stachel zu lecken (Apg 9, 5; 26, 14). Was heißt das? Der Stachel, der in Sauls Fleisch steckte, war seine Vergangenheit als unerbittlicher Christenverfolger, als Werkzeug der Hohenpriester gegen die Christen. Ananias hatte seine Zweifel, als er Saul sehend machen soll. Gott sagt ihm: Er ist mein auserwähltes Rüstzeug, dass er meinen Namen vor die Heiden, Könige und Kinder Israels trage. Ich will ihm zeigen, wie viel er leiden muss um meines Namens willen (Apg 9, 15-16).
Saul fing an von Jesus zu predigen. Die Menschen liefen entsetzt von ihm weg, er war nicht authentisch für sie. Saul wusste aber aufzutreten. In Damaskus „trieb er die Juden in die Enge“, so dass das erste Mordkomplott, von dem berichtet wird, gegen ihn geschmiedet wurde (Apg 9, 25). Die Jünger retteten ihn in einer Nacht und Nebel-Aktion und brachten ihn aus der Stadt. Danach ging er nach Jerusalem und wollte sich den Jüngern anschließen. Die lehnten ihn jedoch ab, da sie ihm schlichtweg nicht glaubten, was er erzählte. Zu phantastisch, um wahr zu sein. Auch in Jerusalem machte er sich schnell Feinde, etwa unter den Griechen, so dass auch sie ihn sogleich an den Kragen wollten.
So komplementierten ihn die Jünger schließlich aus Jerusalem hinaus und brachten ihn auf den Weg Richtung Tarsus, seiner Heimatstadt: So hatte nun endlich die ganze Gemeinde in Judäa, Galiläa und Samarien wieder Frieden (Apg 9, 25-31). Die Apostel scheinen froh gewesen zu sein, diesen Unruhestifter, der überall nur aneckte, wieder los zu sein. Ein weiteres Detail ist hier zu erfahren, das für Saulus Paulus entscheidend ist: Er predigte „frei“ (Apg 9, 28). Was heißt das?
Paulus duldete, wie bereits festgestellt, neben seiner Lehre keine andere, auch nicht die der anderen Apostel. „Aber so auch wir oder ein Engel vom Himmel euch würde Evangelium predigen anders, denn das wir euch gepredigt haben, der sei verflucht“. Gemeint sind vor allem die „hohen“ Apostel. Er wirft ihnen vor, dass sie das – sein - Evangelium verkehren. „Ich tue euch aber kund, liebe Brüder, dass das Evangelium, das von mir gepredigt ist, nicht menschlich ist. Denn ich habe es von keinem Menschen empfangen noch gelernt, sondern durch die Offenbarung Jesu Christi.“ Gott habe ihn, so Saul, von Mutterleib an durch seine Gnade berufen, weshalb er seinen Sohn in ihm offenbare, dass er ihn durchs Evangelium unter den Heiden verkündigen sollte. Unter den Umständen, so erklärt er, sei es nicht notwendig gewesen, sich über das Evangelium mit „Fleisch und Blut“ zu besprechen. Deshalb sei er auch nicht gen Jerusalem gezogen, zu denen, „die vor mir Apostel waren“. Petrus habe er 15 Tage lang gesehen, ansonsten keinen der anderen Apostel, außer Jakobus (Gal 1). Worin die Gnade von Mutterleibe an besteht, ein unerbittlicher Christenverfolger zu sein, bleibt dabei Sauls Geheimnis. Saul fühlt sich vor Gott Jesus gleich. In ihm lebt Jesus weiter. Was er vor sich weg- und hinzuargumentiert, überzeugt seine Mitbrüder jedoch wenig.
Die von Jesus benannten „hohen“ Apostel haben das Treiben des Paulus misstrauisch beäugt, haben wohl auch Kundschafter ausgeschickt, um ihn zu beobachten. Aber ein Saul lässt sich nicht beirren. Er will den Apostelkollegen auch „nicht eine Stunde“ untertan sein. Und was ist schon Reputation: Von denen aber, die das Ansehen hatten, welcherlei sie weiland – zu Jesus Zeiten – gewesen sind: daran liege ihm nichts. Ihm sei das Evangelium an die Heiden gleich vertraut wie Petrus das Evangelium an die Juden. Schließlich hätten Jakobus, Kephas und Johannes ihm die rechte Hand geschüttelt und seien mit ihm übereingekommen, dass er zu den Heiden, sie aber zu den Juden gingen. Er scheint nicht auf die Idee gekommen zu sein, dass sie ihn einfach loshaben wollten.
In Antiochien, so rühmt sich Paulus, habe er sich gegen Petrus gestellt, der – der jüdischen Lehre gemäß – sich nicht mit den Heiden an den Tisch gesetzt hätte. Das sei Heuchelei, und der (böse) Petrus habe auch noch seinen getreuen Barnabas zu dieser Heuchelei verführt. Wahrscheinlich war Paulus der einzige, der Petrus Verhalten als Heuchelei angesehen hat. Was folgt ist ein weiterer Ausbruch gegen das Judentum, verbunden mit einer scharfen Abgrenzung zu den „hohen“ Aposteln und deren Lehre, deren Respekt gegenüber der jüdischen Lehre und dem „Gesetz“, gipfelnd in der finalen Behauptung: Denn so durch das Gesetz Gerechtigkeit kommt, so ist Christus vergeblich gestorben (Gal 2). Das ist die paulinische Logik der Lagerbildung, einfachstes Schwarz-Weiß-Malen. Fast bin ich geneigt, ihn als Demagogen aus eigener Herrlichkeit zu bezeichnen. Das „Gesetz“ ist einer der Hauptreibungspunkte von Saulus Paulus. Und natürlich die „hohen“ Apostel, die meinen sie seien etwas Besseres als er. Da haben sie aber die Rechnung ohne ihn gemacht.
2.Korinther 11 ist eine Hasstirade gegen die „hohen“ Apostel. Saulus Paulus qualifiziert sie ab und rückt ihre Lehre in die Nähe des Teuflischen. Nur seine Lehre sei richtig, da er mit göttlichem Eifer lehre, und dagegen die (hohen falschen fleischlichen) Apostel verführten wie die Schlange Evas: Denn ich achte, ich sei nicht weniger, als die „hohen“ Apostel sind. Auch wenn er nicht der Rede (Jesu) kundig sei, so sei er doch nicht unkundig der Erkenntnis (2. Kor 11, 2-6). Wieso hört ihr andere Predigten, fragt er die Korinther. Wollt ihr mich damit erniedrigen und euch erhöhen? Ich habe euch (mein) Evangelium umsonst verkündigt, Zeitverschwendung. Ihr habt damit anderen die Zeit gestohlen, die stattdessen meine Predigt hätten hören können, setzt er die Korinther weiter unter Druck. Dasselbe Verhaltensmuster, von dem oben unverhohlen die Rede ist: Er hat nicht nur die Juden, sondern auch die Korinther in die Enge getrieben.
Oft fällt bei Saulus Paulus das Wort „Ruhm“, sein Ruhm. Nein, er wolle sich nicht rühmen, aber … , so das Strickmuster seiner Schreibe. So spricht er vom Ruhm, der ihm in den Ländern Achajas nicht verstopft werden soll (2.Kor 11, 20). Sein Tun rechtfertigt er so: Was ich aber tue und tun will, das tue ich darum, dass ich die Ursache abschneide denen, die Ursache suchen, dass sie rühmen möchten, sie seinen wir. Denn solche falsche Apostel und trügliche Arbeiter verstellen sich zu Christi Aposteln. Das sei auch kein Wunder, denn der Satan selbst verstelle sich schließlich zum Engel des Lichts. Deshalb sei es auch nicht schwer, wenn sich seine Diener als Prediger der Gerechtigkeit verstellten. „Ich sage abermals, dass nicht jemand wähne, ich sei töricht; wo aber nicht, so nehmet mich als einen Törichten, dass ich mich auch ein wenig rühme. .. Sintemal viele sich rühmen nach dem Fleisch, will ich mich auch rühmen. Denn ihr vertragt gern die Narren, dieweil ihr klug seid“ (2.Kor 11, 12-18).
Wenn Saulus Paulus in Fahrt war, war er nicht mehr zu bremsen. Er hat sich so richtig in Rage geschrieben: Sind sie (die „hohen“ Apostel) Hebräer? Ich auch. Sind sie Israeliter? Ich auch. Sind sie Abrahams Same? Ich auch! Sind sie Diener Christi? Ich bin’s wohl mehr: Ich habe mehr gearbeitet, mehr Schläge erlitten etc., ich habe, ich bin , ich habe … (2.Kor 11, 22-28). Und übrigens, zwar ist mir das Rühmen nichts nütze, so will ich doch noch von den Erscheinungen und Offenbarungen reden … (2.Kor 12, 1-6). Und damit ich nicht überheblich werde, ist mir der Pfahl ins Fleisch gegeben, der Engel des Satans, der mich mit Fäusten schlägt. Er habe zwar dreimal den Herrn angefleht, dass er von ihm weiche, aber Gott habe zu ihm gesagt, er solle sich mit seiner Gnade begnügen, denn seine Kraft sei in den Schwachen mächtig (2.Kor 12, 7-9). Was heißt das nun, lieber Paulus? Du hast den Teufel in dir?
Er sei zwar, so Saulus Paulus, unter all dem Rühmen zum Narren geworden, aber – damit die Schuldigen auch gleich benannt sind – dazu habt ihr Korinther mich gezwungen, den eigentlich sollte ich von euch gelobt werden, da ich nicht weniger bin als die „hohen“ Apostel. Ich habe die Zeichen und Wunder eines Apostels bei euch bewirkt, mit Geduld, mit Wundern, mit Taten. Was beschwert ihr euch eigentlich? Ich gebe mich hin für eure Seelen, ich liebe euch, werde von euch aber weniger geliebt. Ich habe euch nicht beschwert (d.h. bin euch nicht auf der Tasche gelegen), „sondern die weil ich tückisch bin, habe ich euch mit Hinterlist gefangen“ (2.Kor 12, 16). Ihr Korinther, ihr braucht nicht glauben, dass ich mich vor euch verantworten müsste. „Wir reden in Christo vor Gott; aber das alles geschieht, meine Liebsten, euch zur Besserung“. (2.Kor 12, 19). Der Pluralis Majestatis, den Paulus gern benutzt, entspricht seinem Selbstbild. Ich fürchte, fährt er fort, wenn ich zu euch komme, wird es nichts geben als Hader, Neid, Zorn, Zank, Afterreden, Ohrenblasen, Aufblähen, Aufruhr und mein Gott würde mich bei euch demütigen und ich müsste das Leid tragen über viele, die zuvor gesündigt und nicht Buße getan haben, für deren Unreinheit, Unzucht und Hurerei (2.Kor 12, 20-21). Paulus trägt das Leid für viele … so sieht er sich, auf einer Stufe mit Jesus, Selbsterhebung.
Lieber Luther, das reicht erst einmal für heute. Ich habe genug. Ich könnte noch viele Seite mit anderen Textstellen füllen. Je mehr ich mich diesem Saulus Paulus nähere, desto mehr erschrecke ich. Hätte Jesus so ein Verhalten in seiner Umgebung geduldet? Niemals! Er hat Petrus aus nichtigerem Anlass zusammengefaltet. Was hätte er wohl zu Paulus gesagt?
Zeitensprung. Was wir heute über Menschen gesagt, die von sich auch sagen, der Heilige Geist habe zu ihnen geredet? Was würden wir zu einem Paulus heute sagen? Würden wir ihn für zurechnungsfähig halten? Würden wir ihn ernst nehmen? Würden wir seine Lehre als einen Glaubenspfeiler installieren? Würden wir eine solche Lehre rein aus dem göttlichen Off einer einzigen Person von der Kanzel lassen? Einen, der nicht wie Jesus auf das Alte Testament baut, sondern sich dagegen abgrenzt? Der es nicht für nötig hält, sich mit denen, die Jahre von Jesus direkt gelehrt wurden, ihn jeden Tag erlebt haben, die von ihm für ihren Apostelberuf ausgesucht und vorbereitet wurden, ausbilden zu lassen, sich aber dennoch auf Jesus beruft. Wieso, ist nicht so richtig erkenntlich. Eigentlich braucht er ihn in seiner Lehre gar nicht, er stört eher, bringt ihn in Erklärungsnot.
Lieber Luther, Paulus hat mit den ihm vom Heiligen Geist übermittelten eigenen Erkenntnissen ein ziemliches Alleinstellungsmerkmal in der gesamten Schrift. Deshalb hat das, was er lehrt, nicht viel gemein mit dem, was in den Evangelien steht, außer, dass der Heilige Geist, ein gekreuzigter Jesus und Gott in seiner Lehre vorkommen. Würden wir diesen Mann heute nicht – vielleicht mit Recht – für einen Verrückten halten? Oder als einen Esoteriker? Lieber Luther, ich weiß, dass du sehr auf Paulus baust. Bei mir wankt inzwischen das Paulusgebäude bedrohlich. Ich fange an, nicht mehr zu begreifen, wieso Paulus in der kirchlichen Lehre der Rang eingeräumt wurde, den er hat. Er hat ja nichts verheimlicht, was er schreibt ist – millionenfach – unter die Menschen gebracht. „Es wird dir schwer werden, gegen den Stachel zu lecken“, sagt Gott zu Saulus. Bei Gott ist alles vorhergedacht.
Herzliche Grüße
Deborrah

Montag, 8. September 2014

Paulus

Lieber Luther,
dieser Welt Weisheit ist eitel. Salomon hat das gelernt und in Demut angenommen, aber beileibe nicht jeder. Paulus schreibt im Korintherbrief: „Ich nach Gottes Gnade, die mir gegeben ist, habe den Grund gelegt als weiser Baumeister; ein anderer baut darauf. Ein jeglicher aber sehe zu, wie er darauf baue.“ Damit sind wir beim Predigttext für diese Woche (1.Kor 3, 9-15). Und ein paar Sätze später schreibt er: Der Herr weiß der Weisen Gedanken, dass sie eitel sind (1.Kor 3, 20). Er meint aber damit nicht sich, sondern die Korinther.
Aber, so möchte man ihm zurufen, frei von Eitelkeiten bist auch du nicht, lieber Paulus. Du verlangst von anderen, was du selbst nicht hältst. Die Korinther hatten ihre eigenen Ansichten. Paulus hält dagegen: Mein Wort und meine Predigt besteht nicht in vernünftigen Reden menschlicher Weisheit, sondern dient dem Beweis des Geistes und der Kraft, damit – so belehrt er sie – euer Glaube nicht auf Menschenweisheit fußt, sondern auf Gottes Kraft (1.Kor 2, 4).
Was hier zur Sprache kommt und den (griechisch-logisch) gebildeten Korinthern wohl aufgefallen ist: Paulus argumentiert in nicht nachvollziehbaren Pseudologiken. Wenn er seine Rede mit „Sintemalen“ anfängt oder wenn er argumentativ in Schwierigkeiten ist, nicht mehr weiter weiß, deshalb seine typisch suggestiven Fragen im Konjunktiv stellt, ist Vorsicht angebracht. Er stellt etwas als logisch in den Raum, was nicht logisch ist, er führt Scheinbeweise, die – mit fleischlich menschlich beschränkter Weisheit betrachtet – keine Beweise sind.
Deshalb, lieber Paulus, ist man versucht zu sagen, auch wenn es an deinem Ego kratzt, du bist auch nur ein Mensch, der entsprechend seiner Einsicht und mit bestimmter Absicht schreibt. Man kann – und das waren die Korinther, die Epheser und nicht nur sie – auch anderer Auffassung sein, die Schrift anders auslegen, das Überlieferte anders interpretieren. Dagegen hast du mit aller Macht angekämpft. Deine Auslegung hatte zu zählen und sonst nichts. Mit deiner Arroganz hast du viele Widerstände herausgefordert: Keiner „der Obersten dieser Welt“ hat die heimliche, verborgene Weisheit Gottes erkannt, außer dir natürlich, denn: Wir aber haben nicht empfangen den Geist der Welt, sondern den Geist aus Gott, dass wir wissen können, was uns von Gott gegeben ist und deshalb lehren wir mit Worten, die der Heilige Geist lehrt.
Mit Bezug auf Jesaja fragt Paulus weiter (1. Kor 2, 7-16): „Wer hat des HERRN Sinn erkannt, oder wer will ihn unterweisen?“ und setzt hinzu: Wir aber haben Christi Sinn. Was aber steht bei Jesaja? Wer unterrichtet den Geist des HERRN, und welcher Ratgeber unterweist ihn? Wen fragt er um Rat, der ihm Verstand gebe und lehre ihn den Weg des Rechts und lehre ihn die Erkenntnis und unterweise ihn den Weg des Verstandes (Jes 40, 13-14). Jesaja redet von der unvergleichlichen und vom Menschen nicht zu fassenden Weisheit Gottes. Paulus reklamiert ganz unbescheiden Gottes Weisheit für sich.
Paulus hatte ein Autoritätsproblem. Petrus, der von Jesus selbst und direkt eingesetzte Hirte, hatte wesentlich mehr Anerkennung als Paulus, der Konvertit, der ehemalige Pharisäer. Petrus war DER Jünger Jesus. Er hatte Jesus herausgefordert, war von ihm belehrt worden und schließlich von Jesus selbst erwählt worden. Da konnte Paulus nicht mithalten. Deshalb wurde er auch immer in Frage gestellt, musste um die Anerkenntnis dessen, was er lehrte, kämpfen. So argumentierte er geschickt: Ich habe den Heiligen Geist, deshalb rede ich auch in Christi Sinn. Wer anderer Meinung ist, ist noch in Sünde und nicht in Christi Sinn (1. Kor 2)
Wer ist Paulus, wer ist Appolos, fragt er? Ich habe gepflanzt, Apollos hat gegossen, Gott hat Gedeihen gegeben. Und dann kommt der Satz aus dem heutigen Predigttext: Ich aber habe den Grund gelegt als weiser Baumeister… (1.Kor 3, 6-10). Welchen Grund hat Paulus gelegt? Jesus Christus. Jesus Christus, der Grund von Paulus gelegt? Da kann man schon irritiert sein. Hat nicht Jesus gepflanzt? Ist nicht Jesus der Eckstein? War nicht Jesus der Baumeister? Was mit Gottes Wille und Wege? War Paulus nicht mehr und nicht weniger ein Arbeiter im Weinberg des Herrn wie jeder andere auch?
Doch, sagt Paulus, um gleich die Regeln des Wettbewerbs zwischen seiner und anderen Auslegungen festzulegen: Jeder wird seinen Lohn nach seiner Arbeit bekommen. Wird jemandes Werk bleiben, da er darauf gebaut hat, so wird er Lohn empfangen. Wird aber jemandes Werk verbrennen (=verpuffen), der wird Schaden leiden. Und damit die Verhältnisse auch klar sind, setzt er gleich wieder zu einer seiner typischen Fragen an, die den anderen für dumm verkauft: Wisst ihr nicht (ihr beschränkten fleischlich und nicht geistlichen denkenden Korinther), dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? So jemand den Tempel Gottes verderbt, den wird Gott verderben; denn der Tempel Gottes ist heilig. Niemand betrüge sich selbst. Welcher sich unter euch dünkt weise zu sein, der werde ein Narr in dieser Welt, dass er möge weise sein (1.Kor 3, 8-19). Und damit sind wir wieder am Ausgangspunkt: Denn dieser Welt Weisheit ist Torheit bei Gott, denn, so Paulus, es steht geschrieben: ‚Die Weisen erhascht er in ihrer Klugheit‘, mit Bezug auf Hiob. Was sagt aber Hiob tatsächlich: Er macht zunichte die Anschläge der Listigen, dass es ihre Hand nicht ausführen kann; er fängt die Weisen in ihrer Listigkeit und stürzt der Verkehrten Rat“ (Hiob 5, 12-13).
Das Verhältnis von Paulus zu den Korinthern war schwierig und belastet. Die Korinther haben ihre eigene Einsicht vom Glauben, die nicht immer Paulus Einsicht ist, und so versucht er sie auf seine Schiene zu bringen. Noch schwieriger war die Beziehung zwischen Paulus und den Ephesern. Wenn es darum ging, seine Position durchzusetzen, war er nicht zimperlich. Er will Kirche bauen, auf seiner Theologie fußend und alles was ihn daran hindert, argumentiert er irgendwie weg, oft suggestiv oder mit einer Argumentation, die nicht wirklich nachvollziehbar ist. Er setzt „Beweise“ in die Welt, die keine Beweise sind, fern ab von dem was in den Evangelien steht, als Setzungen des Heiligen Geistes. Er behauptet, was Jesus nie behauptet hat, jedenfalls steht es so nicht in den Evangelien. Paulus predigt sein eigenes Evangelium.
Paulus ist radikal. Wer ihm nicht folgt, folgt nicht Christus und wird verflucht: So jemand den HERRN Jesus Christus nicht liebhat, der sei anathema, das heißt, der sei verflucht (1.Kor 16, 22). Oder gar: Denn obgleich ihr zehntausend Zuchtmeister hättet in Christo, so habt ihr doch nicht viele Väter, denn ich habe euch gezeugt in Christo Jesu durchs Evangelium (1.Kor 4, 15). Und wehe, steht in unsichtbarer Klammer dahinter, ihr weicht von dem ab, was ich euch befohlen habe (1.Kor 11,17).
Der Brief an die Korinther beginnt mit: Paulus, berufen zum Apostel Jesu Christi durch den Willen Gottes (1.Kor 1,1). In allem was Paulus schreibt, stellt er sich auf einen Sockel, von dem ihn seither niemand mehr gewagt hat auf ein normal menschliches Maß herunter zu holen. Die Petrusbriefe beginnen demütiger: Petrus, ein Knecht und Apostel Jesu Christi (2.Petr 1, 1) oder bei Jakobus heißt es: Jakobus, ein Knecht Gottes und des Herrn Jesu Christi (Jak 1, 1). Paulus sieht sich als mehr, verpackt das, um nicht ganz unverfroren dazustehen, immer mit einem Satz scheinbarer Demut: Denn ich bin der geringste unter den Aposteln, der ich nicht wert bin, dass ich ein Apostel heiße, darum dass ich die Bildung der Gemeinde Gottes verfolgt habe. Aber von Gottes Gnade bin ich, was ich bin. Und seine Gnade an mir ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe vielmehr gearbeitet denn sie alle; nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist (1.Kor 15, 9-10). Ein kurzer Rundumschlag des selbst ernannten Apostels gegen alle von Jesus ernannten Apostel.
Lieber Luther, man kann sich mit Blick auf die Erkenntnisse der heutigen Psychologie so seine Gedanken machen über Paulus. Die Metamorphose vom Saulus zum Paulus ist wohl nur zum Teil geglückt. Genauso verbissen, wie er zuvor die Christen bekämpft hat, so verbissen hat er als Christ für seine Theologie gekämpft. Genauso radikal, genauso unversöhnlich denen gegenüber, die anderer Meinung waren als er, man könnte fast sagen, so wie er als ausgebildeter Pharisäer im Dienste der weltlichen Macht über die Leichen der Christen gegangen ist, so radikal ist er nach seinem Seitenwechsel mit theologisch oder religiös anders denkenden umgesprungen. Seine Sündentheologie passt in dieses Muster der Ausgrenzung, genauso wie seine manchmal buchstäblich an den Haaren herbeigezogenen, logisch kaum nachvollziehbaren Ab- und Ausgrenzungsbemühungen gegenüber dem „Gesetz“.
Also hat Paulus gepredigt und also habt ihr geglaubt (1.Kor 15, 11). Lieber Luther, dieser Paulus hatte Sendungs- und Machtbewusstsein. Er wollte sich und seine Lehre, seine Theologie, seine Auslegung der Beziehung der Menschen zu Gott, durchsetzen. Er geht eigene Wege. Seine Lehre vom Heiligen Geist, seine Sündentheologie, die Kirche als der Leib Christi, seine Lehre von der Auferstehung, alles paulinisch. Auf Jesus kann hiervon so gut wie nichts zurückgeführt werden und wenig auf das Erste Testament. Auch dagegen grenzt er sich ab, während Jesus darauf baut. Er beruft sich so gut wie nie auf ihn oder das, was von ihm erzählt wird.
Lieber Luther, ich muss gestehen, ich lese, wie die Korinther und die Epheser, die paulinischen Texte oft mit einem gewissen Unmut: Zuviel, was nur bei Paulus steht und sonst nirgends in der Bibel. Was er schreibt, wirkt unter den anderen Texten wie ein Fremdkörper, zu viel führt in eine Sackgasse, zu viel was er sich und anderen argumentativ in der Luft hängend zumutet, verkleistert und vernebelt in der umständlichsten Sprache der gesamten Bibel. Es hat viele Monate gedauert, bis dieser Brief zustande gekommen ist, bis ich ihn mir zugetraut habe, weil ich weiß, dass ich mich in ein Wespennest setze. Es ist sicher nicht der letzte Brief, den ich dir über Paulus schreibe, aber der Anfang ist endlich gemacht. Es gibt noch viel über Paulus zu sagen, auch viel Positives, auch wenn das heute noch nicht so richtig zu Wort gekommen ist.
Herzliche Grüße
Deborrah