Lieber Luther,
ich will nahtlos an meinen letzten Brief anknüpfen, an die These Ehrmanns, dass das Neue Testament ein gefährliches, frauenfeindliches, antisemitisches und homophobes Buch ist. Es ist natürlich so gekommen, wie es schon vorauszusehen war: Schon allein, wenn man sich der These stellt, die ja nicht so weit hergeholt ist, wenn man die Texte neutral liest, wird einem Unglauben unterstellt, wird gerichtet, mit dem Finger gezeigt, ganz unchristlich Christus im Munde führend. Aber ist es nicht eine Chance nachzudenken und Antworten zu finden, die in unsere Zeit passen? Ich will mich der These stellen, ich finde es herausfordernd, spannend. Zerbröckelt der Glaube unter den Erkenntnissen der Wissenschaft und lässt er sich wirklich nur verteidigen, indem man anfeindet, negiert und in bewährter paulinischer Tradition ausgrenzt? Nein! Die These hilft im Gegenteil zu klären, sich selbst zu klären, aufzuklären, Antworten zu finden, wo vermeintlich rechtglaubende Christen nur abkanzeln oder betreten schweigen. Sie hilft, den Glauben zu bekennen.
Die Bibel ist zunächst nichts als ein Text. Texte werden von Menschen für Menschen geschrieben. Das gilt für Altes wie Neues Testament genauso wie für jeden anderen Text. Dabei ist sowohl der Schreiber als auch der Leser nicht unabhängig von seiner sozialen, gesellschaftlichen und politisch konkreten Lebenswelt zu denken. Er schreibt und liest unter dem Einfluss seiner Realität, welche von Krieg, Flucht, Armut, Ungerechtigkeit, Ungleichverteilung, Hungersnot, Verfolgung, Verschleppung, Unterdrückung, Familienverhältnissen, Kinderlosigkeit, aber auch Wohlstand, Macht, Besitz, Herrschaftsdenken geprägt sein können. Der Schreiber schreibt zu einem gewissen Zweck, im Hinblick auf eine konkrete oder auch abstrakte Leserschaft. Er beabsichtigt mit dem Text etwas zu bewegen und das beeinflusst die Art, wie er schreibt, seine Wortwahl, die Art wie er seinen Text aufbaut und gestaltet. Ein Roman ist anders strukturiert als ein Gedicht, benutzt anderes Vokabular, einen anderen Satzbau. Jeder Schreiber hat seine persönliche Motivation, wieso er schreibt. Nicht zu vergessen: sein jeweiliger Bildungs- und Erfahrungshintergrund. All das fließt in einen Text ein. Es ist die unerzählte Geschichte hinter jeder Geschichte, auch die Geschichte hinter jeder biblischen Geschichte.
Ein salomonischer Text, der dem reichen König zugeschrieben wird, kommt zum Beispiel völlig anders daher als einer von Jeremia, der buchstäblich im Dreck lag und von einem Gefängnisloch ins andere geschleppt wurde. Er ist anders geschrieben, anders aufgebaut, benutzt ein anderes Vokabular, erzählt eine andere Geschichte, stellt unterschiedliche Dinge heraus und in den Mittelpunkt. Und doch haben sie eines gemeinsam: Beide Texte erzählen vom Glauben, wie der Glauben das Leben verändert oder verändern sollte.
Das gleiche gilt für das Neue Testament. Die Evangelien berichten über Jesu Leben. Wer sie aufgeschrieben hat, weiß man nicht wirklich zuverlässig, nur sicher, dass es keine direkten Jünger Jesu waren. Alle haben von dem, was sie schreiben, eine bestimmt Auffassung, interpretieren, ordnen ein, was sie aus ihren schriftlichen und mündlichen Quellen herauslesen, wollen eine Botschaft transportieren. Sie unterscheiden sich dadurch in Nichts von den Schreibern des Alten Testaments.
Das gilt zunächst auch für Paulus und die Schreiber in seiner Nachfolge. Der Unterschied bei Paulus ist, dass er eine neue Religion, einen neuen Glauben schafft, der Jesus zum Gott macht, aus dem Glauben an Gott einen abgeleiteten Glauben an Jesus schafft, einen Glauben, der Jesus für seine Zwecke der Abgrenzung vom Judentum nutzt. Es ist keine Theologie über Gott, sondern eine Theologie über Jesus. Damit steht er schon damals ziemlich unter Rechtfertigungsdruck. Aus Selbstrechtfertigung wird Rechtfertigung durch Glauben. Wir nicht glaubt wie ich das lehre, ist nicht gerechtfertigt vor Gott, wird als ungläubig aussortiert. Kein langes Federlesen. Paulus kreiert ein Konzept der Trennung von Glauben und Werke, das auch seine Werke und seine Schreibe rechtfertigt, und das oft nicht dem eigenen Anspruch standhält. Er erfindet eine Theorie der Vergebung der Sünden allein durch Jesu Kreuzestod und Auferstehung, und stellvertretende Sündenvergebung durch die kirchlichen Würdenträger. Das sichert die eigene Machtbasis. Er begründet eine Religion, bei der nicht mehr Gott, sondern Jesus – stellvertretend für Gott – im Mittelpunkt steht, und dessen Stellvertreter wiederum das ernannte Kirchenpersonal ist. Aus direktem Zugang zu Gott wird Stellvertretung, und Stellvertretung der Stellvertretung.
Das paulinische Gedankenkonstrukt ist bis heute ein wackeliges Gebäude, das bei der geringsten Belastung in Erklärungsnot gerät und einzustürzen droht, nur zu retten durch neue gewagte Hilfskonstruktionen, die genauso auf tönernen Füßen stehen. Die paulinische Theologie setzte sich als „christlicher“ Glaube durch, weil diese Lehre bei den „Heiden“ kommuniziert und verbreitet wurde. Bei den Juden kam Paulus nicht so gut an. Deshalb wandte er sich den „Heiden“ zu, die ihm theologisch nichts entgegenzusetzen hatten, er hatte quasi das Monopol der christlichen Lehre, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass sie sich durchsetzte, da diese „Heiden“ die Klasse stellten, die die damalige Welt beherrschten. Paulus war, im Gegensatz zu Jesus, ein hochgebildeter Mann. Er wollte nicht umsonst mit aller Macht nach Rom. Er kannte als Pharisäer die Machtspielchen, er wusste, wenn die Mächtigen gewonnen waren, hatte er gewonnen.
Die eigentlichen Gegner des Paulus waren die echten Apostel, die Jesus gekannt hatten, und seiner Lehre nicht folgten, wie er offen zugibt. Die echten Apostel waren einfache Menschen der untersten Schicht wie Jesus selbst. Jesus war ihr in jüdischer Tradition predigender Lehrer. Paulus, der Jesus nie getroffen hatte, kannte Jesus nur vom Hörensagen und aus Erzählungen anderer. Die echten Apostel nahmen ihn nicht für voll, was sein stark ausgebildetes Ego kränkte. Es wäre wirklich interessant, Paulus mit heutigen Methoden psychiatrisch begutachten zu lassen. Was wollen die dummen analphabetischen ehemaligen Fischer ihm, dem theologisch gebildeten Pharisäer, über Glauben erzählen? Ihnen wollte er es zeigen. Er war ihnen bildungsmäßig hoch überlegen und das spielte er erfolgreich aus. Er predigte seine eigene Lehre und ein Evangelium frei von Jesu Wort. Er konnte schreiben, so gebildet, dass ihm kaum einer gedanklich folgen konnte und reden, so aggressiv, dass er Aufruhr verursachte und wo immer er auftauchte. Geschickt stellte er alle, die seiner Lehre nicht folgten, in die Ecke der Ungläubigen, so wie es seinem Beispiel folgend heute noch geschieht.
Paulus legte damit den Grundstein für eine Religion über Jesus, eine Religion, die Glauben mit der paulinischen Theologie gleichsetzt. Es klingt absurd, aber es wird jemand in den Mittelpunkt einer Religion gestellt, der selbst das nicht glaubt, was ihm später mündlich und schriftlich angetextet und antheologisiert wird. Aus Glaube an Gott wird christliche Religion über Jesus und breitet sich, als es die Religion der Herrschenden wird, über den Erdball aus. Das eigentlich konstituierende des Erfolges der christlichen Religion war ihre Verheiratung mit den Mächtigen und Herrschenden.
Noch abstrakter als das paulinische Gedankengebäude ist der Ansatz des Johannesevangeliums, das etwa 100 Jahre n.Chr. entstanden ist, unter den philosophisch-hellenistischen Einflüssen des Schreibers. Es führt das Gedankengebäude eines Jesus als fleischgewordenen göttlichen Logos ein.
Welch ein Gegensatz zu der Einfachheit Jesu. Jesus war ein fest im Judentum verankerter Wanderprediger, der die Tora gut kannte. Er stammte aus einfachsten Verhältnissen, gehörte zur untersten Schicht einer von den Römern geknechteten und ausgebeuteten Bevölkerung, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, dass er weder lesen noch schreiben konnte. Wer sollte ihm, dem armen Bauernjungen, das beigebracht haben? Vor diesem Hintergrund predigte er von einem Gott, der ihm und seinesgleichen, den Armen der Ärmsten, den Kranken und Benachteiligten, Hoffnung auf ein besseres Leben gibt. Er predigte an gegen die soziale Ungerechtigkeit, gegen die politischen, gesellschaftlichen und religiösen Unterdrücker gleichermaßen, brach ein Wort für die Vergessenen und Ausgebeuteten, für die unterste Schicht, der er angehörte, ganz in der Tradition alttestamentarischer Prediger, wie etwa Jeremia. Von der paulinischen Theologie, Gebildet- und Eingebildetheit, Weltläufigkeit und Lehre trennten ihn Welten.
Jesus hatte eine apokalyptische Weltsicht, d.h. er ging von einem Gericht am Ende der Zeit aus. Ob er das Ende bald kommen sah oder nicht, ist m.E. obwohl für die kritischen Historiker von Wichtigkeit, völlig unerheblich. Es ändert nichts daran, dass er davon ausging, dass der Mensch für das, was er tut, sich eines Tages verantworten muss. Er wäre sicher nicht auf die Idee gekommen, sich selbst als Gott zu erhöhen. Das wäre für ihn Blasphemie gewesen. Oder sich als jemand zu sehen, der zum Zweck der Sündenerlösung der gesamten Menschheit stellvertretend für die gesamte Menschheit von den Römern – von Gott so gewollt – ans Kreuz genagelt wird. Er wäre auch nicht auf die Idee gekommen, Glaube und Werke voneinander zu trennen. Der Mensch war für ihn ein im Glauben handelnder Mensch, einer der Gottes Willen tut. Davon zeugt alles, was von ihm berichtet wird. Alles, was Jesus später zugeschrieben und aus ihm gemacht wurde, hat nicht er zu vertreten und würde er auch nicht vertreten, sondern die jeweiligen Textschreiber und Religionsbegründer.
Jesus wäre nicht auf die Idee gekommen, gegen die Juden zu hetzen. Er war selbst Jude. Er prangerte das Unwesen an, aber nicht das Judentum an sich, das sein sozialer, gesellschaftlicher und kultureller Hintergrund war. Jesus wäre auch nicht auf die Idee gekommen, frauenfeindlich zu agieren. Es waren Frauen, die ihn unterhielten und durchfütterten. Viele Jüngerinnen waren in seinem Gefolge, wenngleich die patriarchal denkenden Schreiber des Neuen Testaments das möglichst vertuschen wollten, aber nicht ganz konnten. Das ist ein starkes Indiz für die wichtige Rolle der Frauen in Jesu Leben, die nicht immer zu verheimlichen war, wie sehr sich die Schreiber auch bemühten, dies zu vertuschen.
Frauen kommen in vielen Gleichnissen und Geschichten Jesu vor und sie spielen meist eine wesentlich bessere Rolle als die Männer. Jesus war nicht frauenfeindlich, die Schreiberlinge waren frauenfeindlich, allen voran Paulus, der insgesamt offensichtlich ein gestörtes Verhältnis zu Frauen und jeglicher Sexualität hatte. Er und die Verfechter der neu erfundenen Religion, die unter seinem Namen schrieben, machten die persönliche paulinische Einstellung und Disposition zu Judentum, Frauen und Sexualität zum Dogma, dem erstaunlicherweise bis heute die katholische Kirche folgt. Eigentlich ist das unfassbar. Oder vielleicht auch nicht. Es waren ausschließlich Männer, deren Schriften den Weg in die Bibel fanden, es waren Männer, die diese Dogmen aufstellten und es waren ausschließlich Männer, die die Kanonisierung der Bibel vornahmen.
Lieber Luther, ja, Teile der Texte, die den Weg in die Bibel gefunden haben, sind von frauenfeindlichen, sexualitätsgestörten, rassistischen antisemitischen Schreibern verfasst. Das sind die persönlichen Hinterlassenschaften der Schreiber. Die Bibel ist das meistgelesene Buch der Welt. Wie lesen diese vielen Leser die Bibel, wie wirkt sich, was sie lesen, auf ihr Leben aus? Ist die Bibel das wahre Wort Gottes? Ist die Bibel trotzalledem ein Glaubensdokument für mich? Viele Fragen, die noch offen sind. Demnächst weiter.
Herzliche Grüße
Deborrah.
Lieber Luther

Sonntag, 20. September 2015
Montag, 14. September 2015
Kirchen - Herrschaft
Lieber Luther,
schon lange habe ich kein Buch mehr von der ersten bis zur letzten Seite gelesen, da man in der Regel nach 120 Seiten die Argumentationsketten des Autors verstanden hat und sie nicht noch in zig Wiederholungen lesen muss. Nicht so bei diesem Buch:
Verständlich, dass Kirche als Organisation und mit seinen Angestellten alles tut, um das zu vermeiden. Wer sägt sich schon den Ast unter seinem eigenen Hintern ab. Schweigen und Ignorieren als Verteidigungsstrategie. Aber das wird nichts helfen. Unsere globale Welt mit ihren modernen Kommunikationsmedien lässt sich nicht mehr zensieren, es lässt sich nicht mehr unter den Teppich kehren, was unbequem ist. Die Menschen reagieren mit Massenflucht aus den Kirchen, leben ihren Glauben außerhalb von Kirchenlehren und Dogmen.
Glaube hat zunächst nicht unbedingt etwas mit Religion oder Kirche zu tun. Religion und Kirche bedeutet, es gibt Vordenker, denen zu folgen ist. Das Vorgedachte wird zur Orthodoxie, zur „wahren“ Lehre, zu der einen zu folgenden Wahrheit erklärt. Diese vorgegebene Wahrheit wird dann mit Zähnen und Klauen, im Zweifelsfall auch mit Waffengewalt, verteidigt. Selbst Dogmen, die nicht zu erklären sind, wie z.B. die unbefleckte Empfängnis oder die Trinitätslehre. Bis ins Irrationale werden verirrte Lehren verteidigt, unter Androhung göttlicher Strafen und ewiger Verdamnis, wenn dem nicht so gefolgt wird, wie erwartet. Das Vorgedachte, die Dogmatik, wird zum Herrschafts- und Machterhaltungsinstrument. Die Religionsgeschichte ist – bis zum heutigen Tag – voll davon. Aber vielleicht ist es auch umgekehrt: Die in Stein gemeißelte Dogmatik wird zunehmend zu einem Herrschafts- und Machtverlustinstrument. Die bisher verlässlichen Mechanismen verkehren sich in ihr Gegenteil. Die christlich dogmatische Revolution gegen Jesu Lehre frisst langsam aber sicher ihre Kinder.
Religion und Kirche ist der Versuch, mit Hilfe einer von einer Gruppe von einflussreichen Kirchen-Menschen gesetzten Dogmatik, den Glauben einer Vielzahl von einfachen Menschen-Schäfchen unter Kontrolle zu bringen. Es ist der Versuch, den Glauben von Menschen in die gewünschte Richtung zu lenken. Es ist eine Form der Manipulation des Menschen oder, wem das zu drastisch ist: der Kanalisierung der Denkströme der Menschen in die vorgedachte Richtung, die zur einzig wahren Richtung erklärt wird. Für diejenigen, die die Organisation dominieren, ist die Organisation als solches, verknüpft mit der leitenden Dogmatik, ein Mittel der eigenen Machterhaltung. Was die christlichen Kirchen, die christliche Religion anbelangt, ist das, was im Neuen Testament erscheint, in der Form, wie es erscheint, das Ergebnis dessen, was letztendlich durchgesetzt wurde und sich dann in Konsequenz auch durchgesetzt hat.
Die Mächtigen in organisierter Kirche haben dafür gesorgt, dass aus dem jüdischen Wanderprediger Jesus, der als gläubiger Jude an JHWH glaubte, durch nachjesuanische Theologie und Kirchenbildungsbestrebungen, in Abgrenzung zur jüdischen Religion, eine Religion über Jesus wurde. Auf diese Idee wäre Jesus selbst nie gekommen. Die christliche Theologie geht, kurz gesagt, über die Religion Jesu hinweg – Schwamm drüber – und macht ihn selbst zum Gott und Gegenstand ihrer Religion. Zugespitzt könnte man sagen, sie instrumentalisiert respektive missbraucht ihn für ihre Zwecke.
Gott, der für Jesus als Mensch noch direkt zugänglich war, wird nur noch vermittelt durch Jesus Christus zugänglich, sein banaler Kreuzestod wird zum Heilsgeschehen mit Erlösungseffekt uminterpretiert und stilisiert. Die Lehre wird – paulinisch inspiriert – so verkompliziert, dass aus der einfachen Lehre Jesu eine schwer nachvollziehbare Christuslehre wird, die mit ihren Annahmen und Konstrukten in sich inkonsistent und schwer vermittelbar ist. Die frühe christliche Kirche schafft damit die Grundlage für ihre Monopolstellung in der Auslegung. Was nicht verständlich ist, und wer versteht schon die ellenlangen Paulus-Sätze mit ihren vielen unnachvollziehbaren Setzungen im Neuen Testament, bedarf der Erklärung. Macht- und Einfluss der Kirchenoberen ist damit auf Jahrtausende gesichert. Einmal zur Staatsreligion erklärt, wird die Religion auch zum Herrschaftsinstrument. Die Kirchengeschichte spricht Bände.
Das hat zweitausend Jahre funktioniert, weil Macht- und Herrschaft immer auch verknüpft war mit der Herrschaft über die Kommunikation, den Kommunikationsinhalt und die Kommunikationsmittel. Der Gläubige wusste, was der Pfarrer von der Kanzel predigte. Anderes Wissen war ihm nicht zugänglich.
Die neuen Kommunikationsmedien und die globalen Kommunikationskanäle lassen sich nicht mehr so einfach von den Mächtigen und Herrschenden kontrollieren. Sie haben sich ein stückweit verselbständigt. Bildung und Wissen, Erfahrungsaustausch zwischen den Menschen, auch den Gläubigen, läuft nicht mehr nur in kirchlich organisierten und kontrollierten Kanälen. Die Menschen emanzipieren sich zunehmend von Kirche und ihren Lehren, ja sie brauchen zunehmend Kirche und ihre Lehren gar nicht mehr, um ihren Glauben zu leben. Das tut zwar nicht den Kirchen, aber dem lebendigen Glauben gut, sorgt dafür, dass trotz aller Kirchen und kirchlicher Lehren, Glauben lebendig gelebt wird. Das Kirchen- und Religionsmonopol in Sachen Glauben ist in Auflösung. Die Definitionshoheit entgleitet denjenigen, die die bisherige Definitionshoheit hatten.
Wie früher in den Katakomben, treffen sich gläubige Menschen heute im weltweiten Netz, diskutieren, tauschen sich aus, bilden moderne Hausgemeinschaften. Sie sind damit Jesus und seinem Verständnis von Glauben, Glaubensvermittlung und Glaubenserfahrung wesentlich näher als jede von Jesu Lehre entfremdete Kirchen-Herr-Schaft.
Lieber Luther, eigentlich waren das nur klärende Vorüberlegungen, die mir so durch den Kopf gingen, bevor ich mich meinem eigentlichen Anliegen zuwende. Am Ende seines Buches berichtet Ehrman von den unterschiedlichen Reaktionen seiner Studenten auf das wissenschaftlich kaum Übersehbare. Er stellt ihnen in der Regel am Ende seines Seminars eine Aufgabe, der ich mich auch stellen will. Sie sollen auf zwei Seiten eine Antwort finden auf folgende Aufgabe:
Herzliche Grüße
Deborrah
schon lange habe ich kein Buch mehr von der ersten bis zur letzten Seite gelesen, da man in der Regel nach 120 Seiten die Argumentationsketten des Autors verstanden hat und sie nicht noch in zig Wiederholungen lesen muss. Nicht so bei diesem Buch:
Bart D.Ehrman, Jesus im Zerrspiegel, Die verborgenen Widersprüche in der Bibel und warum es sie gibt. Gütersloh, 2010.Obwohl von einem Wissenschaftler geschrieben, ist es verständlich. Es beschreibt und macht die Widersprüche im Neuen Testament dem nicht theologisch gebildeten Menschen in der führenden historisch-kritischen Sichtweise offenkundig. Alles nichts Neues, jeder Theologe, jeder Pastor, müsste den Inhalt kennen. Von den Kanzeln kommt nichtsdestotrotz die orthodoxe Lehre, nach dem Motto: Augen zu, Ohren zu, damit ich nicht all die kritischen Fragen, die daraus entstehen und auf die ich keine Antwort habe, beantworten muss. Es ist ein Anliegen B.Ehrmans, dieses kollektive Verschweigen zu durchbrechen. All die unbequemen Wahrheiten, die die Forschung im letzten halben Jahrhundert ans Tageslicht befördert hat, und die nicht von der Kanzel gepredigt werden, ans Tageslicht zu befördern. Der Elfenbeinturm der kirchlichen Lehren gerät unter diesem kritischen Blickwinkel bedenklich ins Wanken, fällt an sich in sich zusammen.
Verständlich, dass Kirche als Organisation und mit seinen Angestellten alles tut, um das zu vermeiden. Wer sägt sich schon den Ast unter seinem eigenen Hintern ab. Schweigen und Ignorieren als Verteidigungsstrategie. Aber das wird nichts helfen. Unsere globale Welt mit ihren modernen Kommunikationsmedien lässt sich nicht mehr zensieren, es lässt sich nicht mehr unter den Teppich kehren, was unbequem ist. Die Menschen reagieren mit Massenflucht aus den Kirchen, leben ihren Glauben außerhalb von Kirchenlehren und Dogmen.
Glaube hat zunächst nicht unbedingt etwas mit Religion oder Kirche zu tun. Religion und Kirche bedeutet, es gibt Vordenker, denen zu folgen ist. Das Vorgedachte wird zur Orthodoxie, zur „wahren“ Lehre, zu der einen zu folgenden Wahrheit erklärt. Diese vorgegebene Wahrheit wird dann mit Zähnen und Klauen, im Zweifelsfall auch mit Waffengewalt, verteidigt. Selbst Dogmen, die nicht zu erklären sind, wie z.B. die unbefleckte Empfängnis oder die Trinitätslehre. Bis ins Irrationale werden verirrte Lehren verteidigt, unter Androhung göttlicher Strafen und ewiger Verdamnis, wenn dem nicht so gefolgt wird, wie erwartet. Das Vorgedachte, die Dogmatik, wird zum Herrschafts- und Machterhaltungsinstrument. Die Religionsgeschichte ist – bis zum heutigen Tag – voll davon. Aber vielleicht ist es auch umgekehrt: Die in Stein gemeißelte Dogmatik wird zunehmend zu einem Herrschafts- und Machtverlustinstrument. Die bisher verlässlichen Mechanismen verkehren sich in ihr Gegenteil. Die christlich dogmatische Revolution gegen Jesu Lehre frisst langsam aber sicher ihre Kinder.
Religion und Kirche ist der Versuch, mit Hilfe einer von einer Gruppe von einflussreichen Kirchen-Menschen gesetzten Dogmatik, den Glauben einer Vielzahl von einfachen Menschen-Schäfchen unter Kontrolle zu bringen. Es ist der Versuch, den Glauben von Menschen in die gewünschte Richtung zu lenken. Es ist eine Form der Manipulation des Menschen oder, wem das zu drastisch ist: der Kanalisierung der Denkströme der Menschen in die vorgedachte Richtung, die zur einzig wahren Richtung erklärt wird. Für diejenigen, die die Organisation dominieren, ist die Organisation als solches, verknüpft mit der leitenden Dogmatik, ein Mittel der eigenen Machterhaltung. Was die christlichen Kirchen, die christliche Religion anbelangt, ist das, was im Neuen Testament erscheint, in der Form, wie es erscheint, das Ergebnis dessen, was letztendlich durchgesetzt wurde und sich dann in Konsequenz auch durchgesetzt hat.
Die Mächtigen in organisierter Kirche haben dafür gesorgt, dass aus dem jüdischen Wanderprediger Jesus, der als gläubiger Jude an JHWH glaubte, durch nachjesuanische Theologie und Kirchenbildungsbestrebungen, in Abgrenzung zur jüdischen Religion, eine Religion über Jesus wurde. Auf diese Idee wäre Jesus selbst nie gekommen. Die christliche Theologie geht, kurz gesagt, über die Religion Jesu hinweg – Schwamm drüber – und macht ihn selbst zum Gott und Gegenstand ihrer Religion. Zugespitzt könnte man sagen, sie instrumentalisiert respektive missbraucht ihn für ihre Zwecke.
Gott, der für Jesus als Mensch noch direkt zugänglich war, wird nur noch vermittelt durch Jesus Christus zugänglich, sein banaler Kreuzestod wird zum Heilsgeschehen mit Erlösungseffekt uminterpretiert und stilisiert. Die Lehre wird – paulinisch inspiriert – so verkompliziert, dass aus der einfachen Lehre Jesu eine schwer nachvollziehbare Christuslehre wird, die mit ihren Annahmen und Konstrukten in sich inkonsistent und schwer vermittelbar ist. Die frühe christliche Kirche schafft damit die Grundlage für ihre Monopolstellung in der Auslegung. Was nicht verständlich ist, und wer versteht schon die ellenlangen Paulus-Sätze mit ihren vielen unnachvollziehbaren Setzungen im Neuen Testament, bedarf der Erklärung. Macht- und Einfluss der Kirchenoberen ist damit auf Jahrtausende gesichert. Einmal zur Staatsreligion erklärt, wird die Religion auch zum Herrschaftsinstrument. Die Kirchengeschichte spricht Bände.
Das hat zweitausend Jahre funktioniert, weil Macht- und Herrschaft immer auch verknüpft war mit der Herrschaft über die Kommunikation, den Kommunikationsinhalt und die Kommunikationsmittel. Der Gläubige wusste, was der Pfarrer von der Kanzel predigte. Anderes Wissen war ihm nicht zugänglich.
Die neuen Kommunikationsmedien und die globalen Kommunikationskanäle lassen sich nicht mehr so einfach von den Mächtigen und Herrschenden kontrollieren. Sie haben sich ein stückweit verselbständigt. Bildung und Wissen, Erfahrungsaustausch zwischen den Menschen, auch den Gläubigen, läuft nicht mehr nur in kirchlich organisierten und kontrollierten Kanälen. Die Menschen emanzipieren sich zunehmend von Kirche und ihren Lehren, ja sie brauchen zunehmend Kirche und ihre Lehren gar nicht mehr, um ihren Glauben zu leben. Das tut zwar nicht den Kirchen, aber dem lebendigen Glauben gut, sorgt dafür, dass trotz aller Kirchen und kirchlicher Lehren, Glauben lebendig gelebt wird. Das Kirchen- und Religionsmonopol in Sachen Glauben ist in Auflösung. Die Definitionshoheit entgleitet denjenigen, die die bisherige Definitionshoheit hatten.
Wie früher in den Katakomben, treffen sich gläubige Menschen heute im weltweiten Netz, diskutieren, tauschen sich aus, bilden moderne Hausgemeinschaften. Sie sind damit Jesus und seinem Verständnis von Glauben, Glaubensvermittlung und Glaubenserfahrung wesentlich näher als jede von Jesu Lehre entfremdete Kirchen-Herr-Schaft.
Lieber Luther, eigentlich waren das nur klärende Vorüberlegungen, die mir so durch den Kopf gingen, bevor ich mich meinem eigentlichen Anliegen zuwende. Am Ende seines Buches berichtet Ehrman von den unterschiedlichen Reaktionen seiner Studenten auf das wissenschaftlich kaum Übersehbare. Er stellt ihnen in der Regel am Ende seines Seminars eine Aufgabe, der ich mich auch stellen will. Sie sollen auf zwei Seiten eine Antwort finden auf folgende Aufgabe:
„Sie sprechen mit jemandem über den Glauben, und wie es so geht, kommt ihre Gesprächspartnerin irgendwann zur Sache. ‚Hör zu,‘ sagt sie, ‚das Neue Testament ist voller Widersprüche; wir sind nicht in der Lage zu sagen, was der Mensch Jesus tatsächlich getan hat; der Apostel Paulus hat Jesu einfache Predigt vom kommenden Reich in ein kompliziertes theologisches System von Sünde, Gericht und Erlösung verwandelt, und die meisten Verfasser des Neuen Testaments glaubten wirklich daran, dass das Ende zu ihren eigenen Lebzeiten kommen würde. Dieses Buch ist frauenfeindlich, antisemitisch und homophob, und es ist dazu benutzt worden, mit der Zeit alle möglichen Sorten grauenhafter Unterdrückung zu rechtfertigen – man braucht sich nur die Fernseh-Evangelisten anhören. Es ist ein gefährliches Buch! Wie lautet Ihre Antwort?‘ (Ehrman, S. 310 f.).Ja, lieber Luther, wie lautet die Antwort? Meine Antwort kommt in meinem nächsten Brief…
Herzliche Grüße
Deborrah
Sonntag, 6. September 2015
Schweigen
Lieber Luther,
der entscheidende Satz im heutigen Predigttext fehlt, wurde fälschlicherweise abgeschnitten:
Jesus macht nicht viele Worte. Erstaunlicherweise sagt er: Zeigt euch den Priestern! Wie? Was hat das mit den Priestern zu tun? Von Jesus wird die Heilung erwartet? Obwohl ihnen die Anweisung wohl seltsam erschienen sein mag, machen sie sich auf den Weg und während sie gehen, werden sie rein.
Man sieht schon, wie sich diverse Stirne in Falten legen. Wieder so eine Wundergeschichte über Jesus... Wer soll das glauben? Ist das aber wirklich eine Wundergeschichte? Oder schaut man da nur an die Oberfläche, auf die Haut der Kranken, anstatt in ihr Inneres? Ist das nicht eher eine Parabel in der Parabel?
Wieso schickt Jesus die Männer zu den Priestern? Die Priester stehen für die vermeintlich Reinen. Für diejenigen, die sich gerne mit weißer Weste darstellen. Die Aussätzigen stehen für die Verachteten, die Kranken, die Schwachen, diejenigen, die im Dreck liegen, die ihre Unreinheit förmlich auf der Haut tragen. Jeder sieht es, jeder geht ihnen aus dem Weg, sie gehören zu den Randfiguren der Gesellschaft. Priester versus Aussätzige, Rechtschaffenheit gegen kranke Kreatur, vermeintliche Reinheit gegen vermeintliche Unreinheit, Weiß gegen Schwarz, Heilige gegen Sünder, gut gegen schlecht, Privilegien gegen Chancenlosigkeit. Schubladendenken, alles gemessen mit dem Maßstab der Äußerlichkeit. Es ist ein subjektiver Maßstab, der gern als objektiv verkauft wird, aufgestellt von den Herrschenden und gemäß der durchgesetzten Regeln.
Der Spannungsbogen ist geschlagen und offensichtlich, der Leser gespannt, was wohl passieren wird. Die Männer gehen los. Wie werden wohl die feinen Herren von der Priesterschaft reagieren, wenn sie plötzlich mit diesen auf wundersame Weise geheilten Outlaws konfrontiert werden? Man erwartet dass die Priester das Heilsgeschehen erkennen, Dankeshymnen anstimmen, Dankopfer darbringen, … schließlich ist etwas Wunderbares geschehen. Dass sie neugierig sind, nachfragen. Und dann das Überraschende: Es passiert anscheinend nichts, nichts Erwähnenswertes. Schweigen.
Schweigen. Das Schweigen ist das Lauteste in der Geschichte. Das Heilsgeschehen, das unmittelbare Wirken Gottes, wird nicht gewürdigt, sondern mit eisigem Schweigen quittiert. Bis auf eine Ausnahme (Lk 17, 15-19):
Die Enttäuschung Jesu ist fast mit Händen zu greifen. Wie die Stille nach einer großen Explosion. Nachhallende Stille. Zehn Menschen hat Gott die Gnade seiner Fülle erwiesen. Nur einer erkennt es und dankt. Wo sind die neun anderen, und unausgesprochen noch viel drängender: Wo sind die Priester? Null Reaktion. Keine Einsicht. Keine Nachfragen. Kein Dankeswort. Kein Lobpreis an Gott. Schweigen, das weh tut.
Hat sich sonst keiner gefunden, der umkehrt und Gott die Ehre erweist? fragt Jesus fassungslos. Ihr habt nach Gott geschrien. Gott hat gewirkt. Hat keiner das innere Bedürfnis, Gott dafür zu danken? Ihr schreit, Gott, hab Erbarmen. Im Fordern seid ihr gut. Und wenn Gott sein Erbarmen erweist, schweigt ihr, nehmt es als selbstverständlich, schaut betreten weg, verneint es, nennt es Zufall. Ihr meint nicht Gott, ihr meint euch selbst, wenn ihr nach Gott schreit. Ihr seid euer eigener Gott, euer eigener Leitstern. Oder, nach Mt 23, 28:
Es geht in der Geschichte ganz und gar nicht um die wundersame Heilung einer Hautkrankheit, um reine Haut, es geht um innere Reinheit, um innere Ehrlichkeit vor Gott, um die Wahrhaftigkeit gegenüber Gott. Es geht um die Übereinstimmung von äußerer und innerer Reinheit, von äußerem und innerem Sein vor Gott. Ohne innere Aufrichtigkeit vor Gott, hilft alle äußerlicher reiner Schein nichts.
Jesus muss gedacht haben: Welche Zeichen müssen eigentlich noch passieren, um sie zur Umkehr zu bewegen? Die äußeren Zeichen der göttlichen Gegenwart werden nicht gewirkt, um der Zeichen willen, sondern um die innere Erkenntnis zu wecken, dass Gott gegenwärtig ist, hilft und heilt. Um zur Umkehr zu bewegen.
Wer aber mit Ohrstöpseln durch das Leben geht, in Abwehrhaltung, hört nicht Jesu Wort: Dein Glaube hat dich geheilt. Er erkennt Gottes Reich in sich nicht, erkennt nicht, wie reich er mit Gott in sich ist. Er hört nicht, wie Jeus sagt: Stehe auf und gehe hin. Dein Glaube hat dich gerettet. Dein Vertrauen, dass Gott in, mit und an dir wirkt. Gott heilt diejenigen, die sich innerlich heilen lassen. Diejenigen, die die Erkenntnis und das Wirken von Gottes Gegenwart im Jetzt zulassen.
Es sind nicht viele, auf die das zutrifft, lieber Luther. Auch das sagt diese Geschichte. Die überwiegende Mehrheit schaut weg, schweigt, ordnet nicht Gott zu, was Gott zuzuordnen ist. Mensch schreit: Gott, hab Erbarmen, wenn es ihm schlecht geht, er krank oder verzweifelt ist, wenn das Leben nicht so läuft, wie er es gern hätte. Sobald es aber körperlich und psychisch wieder geht, hat Gott ausgedient, geht es wieder weiter ohne Gott.
Was passiert, lieber Luther, so fragt man sich, mit den Neunen, mit den Priestern, den Schweigenden, den innerlich Tauben, die nur Gottes Gnade für sich reklamieren, wenn sie aber geschieht, sie nicht erkennen, sie im Gegenteil auf Abstand gehen, nicht danken, wenn es Zeit wäre, zu danken?
Jesus sagt: Dein Glaube hat die gerettet. Er sagt nicht, die Heilung deiner physischen Krankheit hat dich gerettet. Die inwendige Rettung, von der Jesus spricht, ist eine Rettung, die in die Ewigkeit fortdauert. Das wird, lieber Luther, gern verwechselt, mit Kurzzeitbrille gesehen. Wir lesen Heilung und meinen körperliches Wohlergehen. Das ist eine Rettung, die Jesus nicht meint. Das sollten wir bedenken, wenn wir in der Not Gott um Erbarmen anschreien. Der Glaube allein bringt die Rettung, die innere und äußere Wahrhaftigkeit vor Gott, nicht die Heilung unseres Körpers. Werden wir eine ehrliche Haut vor Gott, um unsere Haut zu retten. Amen.
Herzliche Grüße
Deborrah
der entscheidende Satz im heutigen Predigttext fehlt, wurde fälschlicherweise abgeschnitten:
Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden; man wird auch nicht sagen: Siehe hier! oder: da ist es! Denn seht, das Reich Gottes ist inwendig in euch (Lk 17, 20-21).Was hat sich zugetragen (Lk 17, 12-14)? Jesus ist ein Wanderprediger mit Charisma, dem der Ruf eines Heilers voraneilt. Zehn Menschen mit äußerlichem Gebrechen, einer Hautkrankheit, sehen ihn von weitem kommen und rufen: Meister Jesus, habe Erbarmen mit uns. Sie denken an ihre Krankheit und erwarten von ihm, dass er sie davon heilt. Man kann es ja versuchen.
Jesus macht nicht viele Worte. Erstaunlicherweise sagt er: Zeigt euch den Priestern! Wie? Was hat das mit den Priestern zu tun? Von Jesus wird die Heilung erwartet? Obwohl ihnen die Anweisung wohl seltsam erschienen sein mag, machen sie sich auf den Weg und während sie gehen, werden sie rein.
Man sieht schon, wie sich diverse Stirne in Falten legen. Wieder so eine Wundergeschichte über Jesus... Wer soll das glauben? Ist das aber wirklich eine Wundergeschichte? Oder schaut man da nur an die Oberfläche, auf die Haut der Kranken, anstatt in ihr Inneres? Ist das nicht eher eine Parabel in der Parabel?
Wieso schickt Jesus die Männer zu den Priestern? Die Priester stehen für die vermeintlich Reinen. Für diejenigen, die sich gerne mit weißer Weste darstellen. Die Aussätzigen stehen für die Verachteten, die Kranken, die Schwachen, diejenigen, die im Dreck liegen, die ihre Unreinheit förmlich auf der Haut tragen. Jeder sieht es, jeder geht ihnen aus dem Weg, sie gehören zu den Randfiguren der Gesellschaft. Priester versus Aussätzige, Rechtschaffenheit gegen kranke Kreatur, vermeintliche Reinheit gegen vermeintliche Unreinheit, Weiß gegen Schwarz, Heilige gegen Sünder, gut gegen schlecht, Privilegien gegen Chancenlosigkeit. Schubladendenken, alles gemessen mit dem Maßstab der Äußerlichkeit. Es ist ein subjektiver Maßstab, der gern als objektiv verkauft wird, aufgestellt von den Herrschenden und gemäß der durchgesetzten Regeln.
Der Spannungsbogen ist geschlagen und offensichtlich, der Leser gespannt, was wohl passieren wird. Die Männer gehen los. Wie werden wohl die feinen Herren von der Priesterschaft reagieren, wenn sie plötzlich mit diesen auf wundersame Weise geheilten Outlaws konfrontiert werden? Man erwartet dass die Priester das Heilsgeschehen erkennen, Dankeshymnen anstimmen, Dankopfer darbringen, … schließlich ist etwas Wunderbares geschehen. Dass sie neugierig sind, nachfragen. Und dann das Überraschende: Es passiert anscheinend nichts, nichts Erwähnenswertes. Schweigen.
Schweigen. Das Schweigen ist das Lauteste in der Geschichte. Das Heilsgeschehen, das unmittelbare Wirken Gottes, wird nicht gewürdigt, sondern mit eisigem Schweigen quittiert. Bis auf eine Ausnahme (Lk 17, 15-19):
Einer aber unter ihnen, da er sah, dass er geheilt war, kehrte um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel auf sein Angesicht zu seinen Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter. Jesus aber antwortete und sprach: Sind ihrer nicht die Zehn gereinigt geworden? Wo sind aber die Neun? Haben sich sonst keine gefunden, der zurückkehrten und Gott Ehre zu geben, außer diesem Fremdling? Und er sprach zu ihm: Stehe auf, gehe hin; dein Glaube hat dich gerettet.Nur ein einziger, der sieht und erkennt, was eigentlich passiert, worin das eigentliche Heilsgeschehen liegt. Ein „Fremdling“ erkennt es, einer, der eigentlich nicht zum vermeintlich erlauchten Kreis der Eingeweihten und Geweihten gehört, einer dem nicht die Kompetenz hierfür zugesprochen wird, ein vermeintlich Ungläubiger, einer der Ausgegrenzten. Er sieht mit dem inneren Auge das göttliche Geschehen, kehrt um und dankt aus vollem Herzen. Die anderen Neun und die Priester schweigen.
Die Enttäuschung Jesu ist fast mit Händen zu greifen. Wie die Stille nach einer großen Explosion. Nachhallende Stille. Zehn Menschen hat Gott die Gnade seiner Fülle erwiesen. Nur einer erkennt es und dankt. Wo sind die neun anderen, und unausgesprochen noch viel drängender: Wo sind die Priester? Null Reaktion. Keine Einsicht. Keine Nachfragen. Kein Dankeswort. Kein Lobpreis an Gott. Schweigen, das weh tut.
Hat sich sonst keiner gefunden, der umkehrt und Gott die Ehre erweist? fragt Jesus fassungslos. Ihr habt nach Gott geschrien. Gott hat gewirkt. Hat keiner das innere Bedürfnis, Gott dafür zu danken? Ihr schreit, Gott, hab Erbarmen. Im Fordern seid ihr gut. Und wenn Gott sein Erbarmen erweist, schweigt ihr, nehmt es als selbstverständlich, schaut betreten weg, verneint es, nennt es Zufall. Ihr meint nicht Gott, ihr meint euch selbst, wenn ihr nach Gott schreit. Ihr seid euer eigener Gott, euer eigener Leitstern. Oder, nach Mt 23, 28:
Von außen erscheint ihr den Menschen fromm, aber inwendig seid ihr voller Heuchelei und Untugend.Wie stellt ihr euch eigentlich vor, dass Gott wirkt? Habt ihr überhaupt eine Vorstellung? Wie ein Zauberer mit Hokuspokus? Wir nennen ihm unseren Wunsch und er tut ihn?
Es geht in der Geschichte ganz und gar nicht um die wundersame Heilung einer Hautkrankheit, um reine Haut, es geht um innere Reinheit, um innere Ehrlichkeit vor Gott, um die Wahrhaftigkeit gegenüber Gott. Es geht um die Übereinstimmung von äußerer und innerer Reinheit, von äußerem und innerem Sein vor Gott. Ohne innere Aufrichtigkeit vor Gott, hilft alle äußerlicher reiner Schein nichts.
Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden; man wird auch nicht sagen: Siehe hier! oder: da ist es! Denn seht, das Reich Gottes ist inwendig in euch.Die Neun, die nicht umgekehrt sind, nicht gedankt haben, einfach weiter gemacht haben wie bisher, haben den göttlichen Funken in sich nicht gesehen. Die innere Einsicht hat gefehlt. Auch die Priester waren nur qua Amt rein, ohne innere Wahrhaftigkeit. Aussätzige und Priester hatten die gleiche innere Armut, darin waren sie sich – trotz aller äußeren Klassengegensätze – gleich. Das wollte Jesus vor Augen führen. Es ist nicht der äußere Schein, der zählt, egal wie unterschiedlich die Lebensumstände auch sein mögen. Egal ob Aussätziger oder Priester. Vor Gott ist das unerheblich. Was zählt ist nur die Wahrhaftigkeit oder Unwahrhaftigkeit vor Gott im Äußeren und Inneren.
Jesus muss gedacht haben: Welche Zeichen müssen eigentlich noch passieren, um sie zur Umkehr zu bewegen? Die äußeren Zeichen der göttlichen Gegenwart werden nicht gewirkt, um der Zeichen willen, sondern um die innere Erkenntnis zu wecken, dass Gott gegenwärtig ist, hilft und heilt. Um zur Umkehr zu bewegen.
Wer aber mit Ohrstöpseln durch das Leben geht, in Abwehrhaltung, hört nicht Jesu Wort: Dein Glaube hat dich geheilt. Er erkennt Gottes Reich in sich nicht, erkennt nicht, wie reich er mit Gott in sich ist. Er hört nicht, wie Jeus sagt: Stehe auf und gehe hin. Dein Glaube hat dich gerettet. Dein Vertrauen, dass Gott in, mit und an dir wirkt. Gott heilt diejenigen, die sich innerlich heilen lassen. Diejenigen, die die Erkenntnis und das Wirken von Gottes Gegenwart im Jetzt zulassen.
Es sind nicht viele, auf die das zutrifft, lieber Luther. Auch das sagt diese Geschichte. Die überwiegende Mehrheit schaut weg, schweigt, ordnet nicht Gott zu, was Gott zuzuordnen ist. Mensch schreit: Gott, hab Erbarmen, wenn es ihm schlecht geht, er krank oder verzweifelt ist, wenn das Leben nicht so läuft, wie er es gern hätte. Sobald es aber körperlich und psychisch wieder geht, hat Gott ausgedient, geht es wieder weiter ohne Gott.
Was passiert, lieber Luther, so fragt man sich, mit den Neunen, mit den Priestern, den Schweigenden, den innerlich Tauben, die nur Gottes Gnade für sich reklamieren, wenn sie aber geschieht, sie nicht erkennen, sie im Gegenteil auf Abstand gehen, nicht danken, wenn es Zeit wäre, zu danken?
Jesus sagt: Dein Glaube hat die gerettet. Er sagt nicht, die Heilung deiner physischen Krankheit hat dich gerettet. Die inwendige Rettung, von der Jesus spricht, ist eine Rettung, die in die Ewigkeit fortdauert. Das wird, lieber Luther, gern verwechselt, mit Kurzzeitbrille gesehen. Wir lesen Heilung und meinen körperliches Wohlergehen. Das ist eine Rettung, die Jesus nicht meint. Das sollten wir bedenken, wenn wir in der Not Gott um Erbarmen anschreien. Der Glaube allein bringt die Rettung, die innere und äußere Wahrhaftigkeit vor Gott, nicht die Heilung unseres Körpers. Werden wir eine ehrliche Haut vor Gott, um unsere Haut zu retten. Amen.
Herzliche Grüße
Deborrah
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